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Sind Jungen die neuen Bildungsverlierer? Empirische Evidenz, mögliche Ursachen und pädagogisch-psychologische sowie bildungspolitische Schlussfolgerungen

Fachliche Zuordnung Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie
Förderung Förderung von 2010 bis 2016
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 185817974
 
Erstellungsjahr 2015

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Aus unserem Forschungsansatz "Schulische Entwicklung als Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen" haben wir verschiedene mögliche Gründe für die ungünstigeren Bildungskarrieren von Jungen abgeleitet und ihre Bedeutung in experimentellen und quasiexperimentellen Studien geprüft. Die zentralen Ergebnisse können wie folgt zusammengefasst werden: 1. Durch geringes schulisches Engagement und Störverhalten können Jugendliche ihre Maskulinität und Beliebtheit steigern und selbstwertdienliche Attributionen für Schulversagen auslösen. Sichtbar fehlende Anstrengung und regelrechtes Störverhalten bringen für Jungen einen erheblichen psychologischen Nutzen mit sich: Im Falle guter Leistungen werden sie besonders hoch angesehen und für sehr maskulin, aber wenig feminin gehalten, wenn ihnen diese Leistungen ohne Anstrengung gelingen. Und im Falle schlechter Leistungen wird Jugendlichen von ihren Peers dieses Schulversagen weniger auf fehlende Fähigkeit, sondern stärker auf fehlende Anstrengung attribuiert, wenn sie im Unterricht auffällig stören statt sich dort unauffällig verhalten. Damit einhergehend gelten Störer auch als maskuliner und als wenig feminin. Unser aus diesen Befunden abgeleiteter Interventionsansatz, schulisches Engagement bei Jugendlichen begrifflich so zu framen, dass es nicht automatisch als etwas Feminines wahrgenommen wird, hat sich erwartungsgemäß in einer ersten experimentellen Studie als erfolgreich erwiesen. Dabei ist zu beachten, dass diese Studien nicht als direkte Anleitung für den Unterricht zu verstehen sind, sondern helfen sollen, die psychologischen Mechanismen des geringen schulischen Engagements vieler Jungen zu verstehen. Einer ostentativen Ablehnung alles Femininen seitens der Jungen kann jedoch nicht in erster Linie dadurch begegnet werden, erwünschtes (Lern-) Verhalten nun als maskulin darzustellen. Darüber hinaus ist es wichtig und langfristig zielführender, der Abwertung von als feminin angesehenen Verhaltensweisen pädagogisch entgegenzuwirken; sowie die Kategorie Geschlecht im Unterrichtskontext nicht übermäßig zu betonen, sondern in den Hintergrund treten zu lassen. 2. Schülerinnen und Schüler kennen das Stereotyp über den männlichen Schulversager. Jungen reagierten auf dieses Stereotyp mit Leistungseinbußen in weiblich konnotierten Schulfächern, mit einer verstärkten Motivation in männlich konnotierten Schulfächern und mit verstärktem hostilen Sexismus gegenüber Mädchen. Umgekehrt profitierten Mädchen von der Aktivierung des Stereotyps in ihren Leistungen in einem weiblich konnotierten Fach und sie zeigten verstärkt benevolent sexistische Einstellungen gegenüber Jungen. Eine situationale Aktivierung der männlichen Identität verstärkte das Bestreben von Jungen nach Autonomie in der Schule, umgekehrt führte eine Einschränkung von Autonomie bei Jungen zu einer Intensivierung der Selbstzuschreibung maskuliner Eigenschaften - ein Muster, das wir als Hinweis auf das acting male Phänomen betrachten. Weiter konnten wir zeigen, dass Jungen aufgrund ihres Strebens nach Autonomie Nachteile erfahren, weil sie Aufgaben präferieren, die ihre Selbstregulationskompetenzen überfordern: in längsschnittlicher Betrachtung zeigte sich, dass Jungen durch Aufgaben, die hohe Autonomie versprachen, besonders motiviert wurden, aber über die Zeit betrachtet weniger effektiv arbeiteten und stärkere Abfälle in ihrer Motivation zeigten als Jungen, denen weniger autonomiefordernde Aufgaben zugewiesen worden waren. Zusammengenommen zeigen diese Ergebnisse auf, dass einer Aktivierung des Stereotyps vom männlichen Schulversager im Schulkontext entgegen gewirkt werden muss, da es zu verstärkt geschlechtstypisierten Mustern in Motivation und Leistung führt und die Intergruppenbeziehungen - zwischen Mädchen und Jungen - ungünstig beeinflusst (Sexismus). Die Ergebnisse zu Jungen als autonomen Lernenden sprechen dafür, dass mit dem Schaffen von Möglichkeiten für autonomes Arbeiten im Unterricht das Bestreben von Jungen, sich ihrer männlichen Identität rückzuversichern, abgemildert und vermittelt darüber ihre schulische Motivation und Leistung gesteigert werden kann. Jedoch müssen solche Lernangebote durch Monitoring und individuelle Unterstützung begleitet werden, da Jungen sonst einem erhöhten Risiko des Scheiterns ausgesetzt sind, da diese Art von Aufgaben ihre Selbstregulationskompetenzen überfordern.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2012). Differentielle Benotungen von Mädchen und Jungen? Der Einfluss der von der Lehrkraft eingeschätzten Kompetenz zum selbstgesteuerten Lernen. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 44, 153-162
    Kuhl, P., Hannover, B.
  • (2013). Is school feminine? Implicit gender stereotyping of school as a predictor of academic achievement. Sex Roles, 69 (11-12), 605-617
    Heyder, A. & Kessels, U.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s11199-013-0309-9)
  • (2013). Macho-Man in school: Toward the role of gender role orientation and help-seeking in school performance. Learning and Individual Differences, 23, 234-240
    Kessels U. & Steinmayr, R.
  • (2014). Gender-typicality of activity offerings and child-teacher relationship closeness in German "Kindergarten". Influences on the development of spelling competence as an indicator of early basic literacy in boys and girls. Learning and Individual Differences, 31, 59-65
    Wolter, I., Glüer, M., & Hannover, B.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1016/j.lindif.2013.12.008)
  • (2014). Geschlechtsidentität: Selbstwahrnehmung von Geschlecht. In D. Lück & W. Cornelißen (Hrsg.): Geschlechterunterschiede und Geschlechterunterscheidungen in Europa. Stuttgart: Lucius & Lucius (S. 143-160)
    Hannover, B., Wolter, I., Drewes, J., Kleiber, D.
  • (2014). How gender differences in academic engagement relate to students' gender identity. Educational Research, 56, (2), 219-228
    Kessels, U., Heyder, A., Latsch, M., Hannover, B
    (Siehe online unter https://dx.doi.org/10.1080/00131881.2014.898916)
  • (2014). Sind Jungen die neuen Bildungsverlierer? In B. Spinath (Hrsg.) Empirische Bildungsforschung: Aktuelle Fragen der Bildungspraxis und Bildungsforschung (S. 3-19). Berlin: Springer
    Kessels, U.
  • (2014). Smart girls, dumb boys!? How the discourse on "failing boys" impacts performances and motivational goal orientation in German school students. Social Psychology, 45, 112-126
    Latsch, M., Hannover, B.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1027/1864-9335/a000167)
  • (2015). Do teachers equate male and masculine with lower academic engagement? How students’ gender enactment triggers gender stereotypes at school. Social Psychology of Education, 18. 467-485
    Heyder, A. & Kessels, U.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s11218-015-9303-0)
  • (2015). Mädchen und Jungen in der Schule. In K. Seifried, S. Drewes & M. Hasselhorn (Hrsg.). Handbuch Schulpsychologie - Psychologie für die Schule (S. 293-302). Stuttgart: Kohlhammer
    Kessels, U.
  • (2015). Reading is for girls!? The negative impact of preschool teachers' traditional gender role attitudes on boys' reading related motivation and skills. Frontiers in Psychology, 6:1267
    Wolter, I., Braun, E. , Hannover, B.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.3389/fpsyg.2015.01267)
  • Unterricht und Geschlecht aus internationaler Perspektive. In N. McElvany, W. Bos, H.-G. Holtappels, M. Gebauer & F. Schwabe (Hrsg.) Bedingungen und Effekte guten Unterrichts. Münster, Waxmann, 2016. S. 89-106
    Kessels, U., Heyder, A., Holder, K.
  • Boys don’t work? On the psychological benefits of showing low effort in high school. Sex Roles, Vol. 77. 2017, Issue 1–2, pp. 72–85.
    Heyder, A., Kessels, U.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s11199-016-0683-1)
  • Die Wertschätzung schulischer Anstrengung als Mediator von Geschlechtsunterschieden in Noten: eine fächerspezifische Analyse. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, Bd. 49. 2017, Heft 2, pp. 86-97.
    Kessels, U., Heyder, A.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1026/0049-8637/a000171)
  • Geschlechtsunterschiede. In: D. Rost, J. Sparfeldt & S. Buch (Hrsg.) Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. 5. Auflage 2018, S. 209-217, Weinheim: Beltz.
    Kessels, U., Heyder, A.
 
 

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