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Der psychiatrische Fachdiskurs zu Kinderwunsch und Elternschaft bei psychisch kranken Menschen

Fachliche Zuordnung Empirische Sozialforschung
Förderung Förderung von 2010 bis 2015
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 186717769
 
Erstellungsjahr 2016

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Hintergrund: Elternschaft bei Menschen psychischen Erkrankung ist sowohl für die betroffene Person wie auch für das Kind mit erheblichen Risiken assoziiert. Daher ist davon auszugehen, dass sich die Beschäftigten in der Psychiatrie in einem Spannungsfeld zwischen Respektierung der Autonomie und Fürsorge gegenüber den Betroffenen bewegen. Zum Umgang mit der Thematik, zu möglichen Konflikten und den Bewältigungsstrategien lagen zum Studienbeginn keine Befunde vor. Ziele/ Fragestellung: Das Anliegen der Studie war es, den diesbezüglichen psychiatrischen Fachdiskurs aus drei Perspektiven - Fachliteratur, kollektive und individuelle Orientierungen - zu beleuchten und der Frage nachzugehen, wie die an der psychiatrischen Behandlung beteiligten Berufsgruppen (PsychiaterInnen, PsychologInnen, Pflegefachkräfte, SozialarbeiterInnen) reproduktive Aspekte in der Behandlung psychisch kranker Menschen diskursiv bearbeiten und wie die damit möglicherweise einhergehenden ethischen Konflikte und Dilemmata erlebt und bewältigt werden. Methoden: Einem explorativen, triangulierenden Ansatz folgend, wurden im Rahmen dreier Arbeitspakete (Dokumentenanalyse, Gruppendiskussionen, Interviews) diskursanalytische und sinnrekonstruktive Methoden eingesetzt. Im ersten Arbeitspaket (Dokumentenanalyse) wurden für die Textanalyse 8 etablierte Lehrbücher aus den relevanten Fachbereichen und über 60 Leitlinien verschiedener Fachgesellschaften sowie internationale Fachliteratur diskursanalytisch ausgewertet. Im zweiten Arbeitspaket (Gruppendiskussionen) wurden sieben Gruppendiskussionen durchgeführt, basierend auf einer Gesamtzahl von 49 psychiatrischen Fachkräften aus den relevanten Berufsgruppen. Die Auswertung orientierte sich an der dokumentarischen Methode. Im dritten Arbeitspaket wurde n=31 problemzentrierte Interview durchgeführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Ergebnisse/Diskussion: Wie die Dokumentenanalyse der einschlägigen psychiatrischen Lehrbücher einerseits zeigte, dominieren die ethischen Prinzipien des Nichtschadens (Non-Malefizienz) und des Wohltuns (Benefizienz), während die Patientenautonomie im Kontext eines Kinderwunsches nicht explizit angesprochen wurde. Gleichzeitig tauchen jedoch Eltern in psychiatrischen Lehrbüchern und Praxisleitlinien in retrospektiver Hinsicht in ihrem v.a. negativen Einfluss auf den Krankheitsverlauf der Patienten auf. Es besteht also eine Diskrepanz zwischen fachlicher Zurückhaltung bezüglich der Wertung des möglichen Elternverhaltens psychisch erkrankter Personen und einer gleichzeitig als für das Kind potenziell schädlich beschriebenen Wirkung der elterlichen psychischen Erkrankung. Die daraus abzuleitende zentrale Hypothese eines implizit dominierenden normativen Prinzips der Patientenautonomie bei gleichzeitiger Tabuisierung des Feldes spiegelt sich in den Befunden der Gruppendiskussion, wo gezeigt werden konnte, dass das Konzept der „reproduktiven Autonomie“ als kollektive normative Orientierung dient. Den aus den Praxiserfahrungen erwachsenden ethischen Konflikten zwischen Autonomie und Kindswohl begegnen die psychiatrischen Fachkräfte mit „De-Professionalisierung“, „Orientierung am Patientenwohl“ „Information und Beratung“ sowie mit „Resignation“. Jenseits kollektiver Orientierungen deuten auch die Befunde der Interviewstudie auf die Gültigkeit des Prinzips der reproduktiven Autonomie, das sich hier z.B. in Form einer thematischen Beschränkung des Kinderwunschs auf medikamentöse Aspekte sowie einer Verlagerung auf ambulante Settings ausdrückte. Dennoch scheint es möglich, Bedenken gegen eine Mutterschaft zu äußern, jedoch eng verknüpft mit Maßnahmen zur ‚rechtzeitigen‘ Aufklärung und Beratung mit dem Ziel eines eigenverantwortlichen Verzichts auf Elternschaft. Schließlich zeigt ein differenzierender Blick, dass das Thema Elternschaft stärker als jenes des Kinderwunschs im Fachdiskurs etabliert ist. Konflikte im Umgang mit dem Thema Elternschaft ergeben sich hier weniger unter ethisch-normativen als unter strukturellen Gesichtspunkten. Schlussfolgerungen: Angesichts des beträchtlichen, insbesondere für den Umgang mit einem Kinderwunsch existierenden ethischen Konfliktpotentials, das maßgeblich geprägt wird durch die normative Orientierung am Prinzip der reproduktiven Autonomie und der Sorge um das Wohlergehen der beteiligten Personen (insb. Kinder) und der gleichzeitigen Tabuisierung des Feldes ist in erster Linie eine Reflexion des Spannungsfelds im fachpsychiatrischen Diskurs sowie die Entwicklung praktischer Handlungsempfehlungen anzustreben. Die strukturellen Barrieren in der Versorgung psychisch kranker Eltern sind vor allem dort abzubauen, wo eine lediglich auf die Aufnahmesituation beschränkte Berücksichtigung von Elternschaft erfolgt. Es sollten geeignete Instrumente zur standardisierten Eruierung des laufenden Hilfebedarfs sowie Handlungsempfehlungen bzw. Instrumente zur angemessen Thematisierung von Elternschaft entwickelt, getestet und in die Routineversorgung implementiert werden.

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