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Konsum und politische Kommunikation im Zarenreich 1856 - 1914

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2010 bis 2015
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 188151473
 
Erstellungsjahr 2014

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Thema eignet sich glänzend, um Russland in einem europäischen Kontext zu verorten. Nicht nur auf der Ebene der Wissenschaftsgeschichte und des Wissenschaftleraustauschs erwies sich das Zarenreich als ein fester Bestandteil europäischer Kommunikationskreise, sondern auch in Bezug auf Lebensmittelqualität und Verbraucherschutz. Im Spätsommer 1908 berief die Schweizer Gesellschaft des Weißen Kreuzes einen internationalen Kongress zum Kampf gegen die Lebensmittelfalsifikation nach Genf ein. Aufgabe war, Inhaltsstoffe und Grenzwerte von ca. zwei Dutzend gängiger Nahrungs- und Genussmittel international einheitlich festzulegen. Als eine wichtige innenpolitische Folge dieses internationalen Kongresses gründete der russische Ministerrat Ende Mai 1909 beim Ministerium für Handel und Industrie ein ständiges Komitee, das landesweit Maßnahmen gegen Lebensmittelfalsifikation ergreifen und die gemeinsamen Anstrengungen mit den Organen der lokalen Selbstverwaltung koordinieren sollte. Die Verabschiedung internationaler Standards geschah nicht unbedingt im Verbraucherinteresse, wie das Beispiel der mit einem Wasseranteil von weniger als 10% international konkurrenzlosen sibirischen Butter lehrte. Als ausgehend von Dänemark kurz vor dem Ersten Weltkrieg international die Grenzwerte des Wassergehalts auf 16% angehoben wurde, glichen die sibirischen Molkereien ihr Produkt in Kürze dem Grenzwert an: Der Verbraucher erhielt nun ein minderwertigeres Produkt als früher zum alten Preis. Im Unterschied zum Deutschen Reich gab es im Zarenreich weder einen Verband der Lebensmittelindustriellen noch eine berufsständische Organisation der Chemiker. Auch unterblieben hier Versuche seitens der Wirtschaft, eigene wissenschaftliche Standards zu formulieren bzw. Grenzwerte zu setzen. Offenbar waren die branchenspezifischen, regionalen und ethnokonfessionellen Unterschiede der Unternehmer, die bis zur Revolution von 1905 politisch unorganisiert blieben, zu groß. So überließ die Wirtschaft dieses Feld den Wissenschaftlern, den lokalen Behörden und dem Staat. Weil das Ancien régime begann, sich für die Verbraucherbelange zu engagieren, trug es dazu bei, die Kluft, die weite Teile der Bevölkerung in der Revolution der Jahre von 1905 bis 1907 als unüberwindlich empfunden hatte, zu verringern. Der „Staat“ galt nicht mehr als Gegenpol der Gesellschaft. Er war bereit, mit der Gesellschaft in Kontakt zu treten, ihre Anliegen aufzunehmen und ihr zugleich die Chancen zu eröffnen, selbsttätig im lokalen Rahmen durch Verordnungen den Verbraucherschutz zu gewährleisten. Dies kann als ein Schritt weg vom russischen Interventionsstaat gedeutet werden. Die Verbraucher selbst wurden, sieht man einmal von der wachsenden Zahl von Konsumgenossenschaften ab, nicht weiter aktiv. Die Verbraucher betrachteten Labore und ihr wissenschaftliches Personal als verlässliche Partner und Vertrauensagenturen. Mit ihrer wissenschaftlichen Expertise halfen diese ihnen, in dem unüberschaubaren Dickicht komplexer, moderner Marktbeziehungen die Informationsasymmetrien zwischen Anbietern und Käufern zu minimieren. Allerdings galt hier das Paradoxon der gleichzeitigen Vermehrung von Wissen und Nichtwissen: Je intensiver die Lebensmittelüberwachung wurde, desto mehr Lebensmittelmängel förderte sie zu Tage. Oft waren es gerade die Lebensmittelsfälscher, die sich den wissenschaftlichen Fortschritt als Erste zu Nutze machten. Daher ist der Kampf gegen die Produktverfälschung kaum als lineare Erfolgsgeschichte zu schreiben. Auf einem geringeren Niveau als im Deutschen Reich befand sich auch Russland auf dem Weg der Systematisierung, Professionalisierung und Intensivierung der Nahrungsmittelkontrolle. Auch im Zarenreich avancierten Markenzeichen und Prüfsiegel zum Qualitätssignum. Garantierten die Labore Mindeststandards, waren einige Firmen im Hochpreissegment wie der Wodkaproduzent Šustov oder der Gebäckfabrikant Ėjnem bereit, ihre Warenqualität durch eigene Qualitätskontrollen zu gewährleisten, einerseits um das eigene Renommee abzusichern, anderseits aber auch, um den hohen Preis des eigenen Produkts zu rechtfertigen. Auf einem anderen Blatt stand allerdings das „kurze Gedächtnis“ des Konsumenten. In aller Regel änderte der Konsument nach einem Lebensmittelskandal nur kurzfristig seine Konsumgewohnheiten, um alsbald wieder in gewohnte Muster zu verfallen. Darin unterschied sich der Käufer an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Zarenreich strukturell nicht von dem mündigen citizen-consumer westlicher Provenienz des 21. Jahrhunderts.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Hygienediskurse und Sozialpolitik in der russländischen Provinz: Die Saratover Sanitärgesellschaft. In: Naturwissenschaft als Kommunikationsraum zwischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Ortrun Riha u. Marta Fischer. Aachen 2011 (Relationes; 6), S. 299-316
    Lutz Häfner
  • „Leider können auch wir Russen nicht ohne Geld auskommen“: Vom Wandel des Umgangs mit Geld im ausgehenden Zarenreich. In: L’Homme 22 (2011) 2, S. 47-63
    Lutz Häfner
  • Associations and the Public Sphere in Provincial Russia. A Case Study of Saratov, 1800-1917. In: Vereinskultur und Zivilgesellschaft in Nordosteuropa. Regionale Spezifik und europäische Zusammenhänge. Hrsg. v. Jörg Hackmann. Köln, Weimar, Wien 2012 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 20; Veröffentlichungen der Aue-Stiftung, 26), S. 509-532
    Lutz Häfner
  • Russland als Geburtsland des modernen „Terrorismus“? oder: „Das classische Land des politischen Attentats“. In: Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Klaus Weinhauer u. Jörg Requate. Frankfurt/M. 2012, S. 65-97
    Lutz Häfner
  • Russland und die Welt: Das Zarenreich in der Migrationsgeschichte des langen 19. Jahrhunderts. In: Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte 1855-1991. Hrsg. v. Martin Aust. Frankfurt/M. 2013, S. 64-83
    Lutz Häfner
  • Zeichen des Wohlstands? Von der Evolution der Körpergröße bis zur Russischen Revolution: 1917 als Ergebnis einer „Public Relations-Kampagne“ der intelligencija. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 61 (2013) 1, S. 112-119
    Lutz Häfner
  • Lebensmittelkonsum, Produktfälschung und Verbraucherschutz im Zarenreich vor dem Ersten Weltkrieg. In: Hygiene als Leitwissenschaft im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Ortrun Riha u. Marta Fischer. Aachen 2014 (Relationes; 16), S. 261-278
    Lutz Häfner
 
 

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