Satzbehalten als Methode der Sprachstandsdiagnose
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Rahmen des Projekts sollte zunächst untersucht werden, ob die Aufgabe „Sätze nachsprechen“, die unter anderem als Untertest bei Sprachstandsdiagnosen verwendet wird (z.B. Delfin 4, SETK 3-5), nicht-muttersprachliche Kinder gegenüber muttersprachlichen Kindern benachteiligt. Wir konnten zeigen, dass das Nachsprechen von Sätzen – verglichen mit anderen komplexen sprachlichen Aufgaben (z.B. Ausfüllen von Lückentexten oder Satzverstehen) – auch hochkompetenten Nicht-Muttersprachlern (sog. Near Natives) große Probleme bereitet. Allerdings sind die Ergebnisse unserer Experimente weniger deutlich in Bezug auf die Frage, worin die Ursache für diese Schwierigkeiten liegt. Wir hatten ursprünglich angenommen, dass bei der wörtlichen Satzwiedergabe grundsätzlich eine kognitiv beanspruchende Aufrechterhaltung von Oberflächeninformationen stattfinden muss, und dass dies in Verbindung mit einer bei Nichtmuttersprachlern nicht hinreichend automatisierten Sprachverarbeitung zur Überlastung des Aufmerksamkeitssystems und damit zu Leistungsbeeinträchtigungen führt. Eine inhaltliche Wiedergabeinstruktion würde, weil hier keine Oberflächeninformation benötigt wird, die Nachteile für Near Natives gegenüber Muttersprachlern verringern. Unsere Befunde unterstützen diese Annahme jedoch nicht: Die Unterschiede zwischen Near Natives und Muttersprachlern sind bei Verwendung einer inhaltlichen Wiedergabeinstruktion nicht geringer als bei Verwendung einer wörtlichen. Um die Prozesse, die bei der wörtlichen und inhaltlichen Satzwiedergabe stattfinden, besser verstehen zu können, haben wir eine Reihe von Experimenten durchgeführt, in denen wir bei Muttersprachlern des Deutschen Satzverarbeitungsprozesse unter drei unterschiedlichen Orientierungsaufgaben untersucht haben. Die Sätze sollten nach der Darbietung entweder wörtlich oder inhaltlich wiedergegeben werden oder die Versuchspersonen sollten eine inhaltliche Frage zum Satz beantworten (Verstehen). Die Ergebnisse ließen keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu. Im Hinblick auf die Wiedergabeleistung zeigte sich nur in einer von fünf Studien ein Vorteil für die wörtliche Wiedergabeinstruktion gegenüber der inhaltlichen. Mehr Aufschluss über die beteiligten Prozesse erhält man durch eine Betrachtung von aufgabenspezifischen Unterschieden von Lesezeiten. Bei self-paced reading-Experimenten zeigten sich einmal kürzere Lesezeiten bei inhaltlicher als bei wörtlicher Satzwiedergabe (was dafür spricht, dass der kognitive Aufwand bei wörtlicher Wiedergabe größer ist als bei inhaltlicher) und einmal kein Unterschied (was dafür spricht, dass beide Bedingungen ähnlich aufwändig sind). Die Verstehensinstruktion ging hingegen immer mit kürzeren Lesezeiten einher, was belegt, dass die damit einhergehenden Verarbeitungsprozesse kognitiv weniger aufwändig sind als bei wörtlichem und inhaltlichem Behalten. Aufgrund dieser erhöhten kognitiven Belastung durch behaltensbezogene Prozesse könnte es sein, dass eine semantische Verarbeitung hier nur reduziert (und verzögert) stattfindet. Diese Annahme haben wir im Rahmen von Visual World Experimenten untersucht. Die Ergebnisse bestätigen diese Annahme: Bei wörtlicher Wiedergabeinstruktion werden Objekte, die im (auditiv dargebotenen) Satz benannt werden und auf einem Monitor in Form von Bilder gezeigt werden, später und seltener fixiert als bei inhaltlicher Wiedergabe und in der Verstehensbedingung. Die Blickbewegungsdaten unterscheiden sich hingegen nicht zwischen der inhaltlichen Wiedergabe- und Verstehensinstruktion. Insgesamt sind die Ergebenisse damit uneinheitlich und lassen keine abschließende Schlussfolgerung über den Status der inhaltlichen Wiedergabe im Vergleich zu wörtlicher Wiedergabe und Verstehen zu. Neben der Frage nach den Prozessen, die der wörtlichen und der inhaltlichen Satzwiedergabe bei Muttersprachlern (und Near Natives) zugrunde liegen, haben wir das Ziel verfolgt, eine Aufgabe zu finden, die die Vorteile der wörtlichen Satzwiedergabe (sowohl Sprachrezeption als auch Sprachproduktion auf verschiedenen sprachlichen Ebenen sind erforderlich, einfache Durchführung) beibehält, aber gleichzeitig einen „faireren“ Test der Sprachkompetenz darstellt. Aus theoretischen Gründen erschien uns hier eine inhaltliche Satzwiedergabe als geeignet. Unsere Ergebnisse zeigen jedoch, dass die inhaltliche Satzwiedergabe nicht zu einer Verringerung der Benachteiligung von Near Natives führte. Die geringste Benachteiligung der Near Natives zeigte sich in unseren Experimenten, wenn eine wörtliche Satzwiedergabe mit selbstgesteuerter Lesezeit instruiert wurde. Für Vorschulkinder stellt dies trivialerweise keine umsetzbare Möglichkeit dar, da sie noch nicht lesen können. Ob eine selbstgesteuerte auditive Darbietung dieselben Verarbeitungsvorteile bietet, konnten wir bislang noch nicht klären.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(03/2013). Task demands influence sentence coding: Evidence from selfpaced reading and the visual world paradigm. Paper presented at 55th TEAP: Conference of Experimental Psychologists, Wien, Östereich
Ketzer, A., Rummer, R. & Schweppe, J.
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(09/2013). Sentence Recall in Natives and Near Natives. IRIS - Eliciting Data in Second Language Research: Challenge and Innovation, York, UK
Schweppe, J., Rummer, R., Barth, S. & Ketzer, A.
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(2013). Two modality effects in verbal short-term memory: Evidence from sentence recall. Journal of Cognitive Psychology, 25(3), 231–247
Rummer, R., Schweppe, J. & Martin, R. C.
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(07/2014). Benchmarks of working memory: verbal working memory. Workshop on Benchmarks for Working Memory. Emmetten, Schweiz
Schweppe, J.
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(07/2015). Exploring Sentence Recall in Natives and Near Natives. ECLL: European Conference of Language Learning, Brighton, UK
Ketzer-Nöltge, A., Schweppe, J. & Rummer, R.
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(2015). Does verbatim sentence recall underestimate the language competence of near-native speakers? Frontiers in Psychology, 6
Schweppe, J., Barth, S., Ketzer-Nöltge, A. & Rummer, R.