Islamisch - hip - integriert. Zur Funktion religiöser Vergemeinschaftung für die Identitätsbildung junger Musliminnen der Muslimischen Jugend Deutschland e.V. (MJD)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Auf der Basis einer multimethodisch angelegten Ethnographie im Rahmen des Vereinsgeschehens der Muslimischen Jugend in Deutschland (MJD) liefert die vorliegende Studie eine Beschreibung und Analyse einer bislang kaum beleuchteten Facette islamischer Gegenwarts- und Jugendkultur. Ausgehend von Ergebnissen qualitativer Studien, die Transformationsprozesse der Religiosität junger Musliminnen und Muslime überwiegend als Individualisierung und Enttraditionalisierung beschreiben sowie der in der Selbstdarstellung des Vereins propagierten nationalen und konfessionellen Pluralität war das Projekt zunächst mit dem Ziel verbunden, Individualisierungsprozesse im Rahmen des Vereinsgeschehens anhand einer Typologie verschiedener Identitätskonstruktionen zu erfassen. Angesichts der Beobachtung, dass der Topos der Gemeinschaft im Rahmen des Vereinsgeschehens sowohl hinsichtlich des propagierten Islamverständnisses als auch hinsichtlich des individuellen Selbstverständnisses der jungen Musliminnen eine zentrale Rolle spielt, verschob sich der Fokus zunehmend auf Vergemeinschaftungsprozesse, die die Individualisierung begrenzen. Die Musliminnen streben nicht ein individuelles Verständnis des Islam an, sondern möchten den „wahren“ Islam kennen lernen und eine „perfekte“ Muslimin sein; und die im Rahmen des Vereinsgeschehens propagierte „deutsch-islamische Identität“ geht als Identitätspolitik Konformitätsdruck ebenso einher wie mit sozialen Distinktionen, Exklusionen und Abwertungen im innerislamischen wie im gesellschaftspolitischen Diskurs, da der Islam als unhinterfragbare Wahrheit und Richtschnur des individuellen und sozialen Lebens gilt. Die Erlangung von Repräsentationsmacht und Deutungshoheiten als einheitliche und starke Umma (Gemeinschaft der Gläubigen) mittels einer als individuelle Aufgabe begriffenen Da’wa ist mit einer habituell konstruierten und vermittelten sozialen Positionierung verbunden, mit einer Politik der Lebensführung, mit der kulturelle Hegemonie hergestellt werden soll. Die Gemeinschaftskonstruktion basiert auf einem spezifischen Islamverständnis, das als allumfassender Lebensstil angeeignet werden muss, um Zugehörigkeit zu markieren. Gemeinschaftsbildend sind die islamische Jugendkultur, die das Lebensgefühl und zentrale Werte dieser transnationalen islamischen Szene transportiert sowie das Geschlechterrollenverständnis und die Sexualmoral, die als Mittel sozialer Distinktion mit der Proklamation moralischer Überlegenheit verbunden sind. Opfergefühle werden in Überlegenheitsansprüche gewendet, die situativ und kontextabhängig mit Ausschlüssen, Abwertungen und Feindbildkonstruktionen gegenüber nicht-islamischen verbunden sind und dem Einzelnen unter Konformitäts-, Normierungs- und (Selbst-)Disziplinierungsdruck stellen. Die Studie analysiert die enge Verzahnung von Individualisierungs- und Vergemeinschaftungsprozessen, die Legitimierung eines Islamverständnisses als „re-invented tradition“, bei dem Weltdeutungs- und Lebensstilmuster verschiedener Kontexte als Konstruktion eines „wahren Islam“ miteinander amalgiert werden und dem Einzelnen als Selbstoptimierungskonzept einerseits agency vermitteln und Handlungsoptionen eröffnen, andererseits aber auch mit klaren Begrenzungen einhergehen und insbesondere junge Musliminnen als „Agentinnen“ des „wahren“ Islam in den Dienst nehmen, um Deutungshoheiten und Machtansprüche im innerislamischen und gesellschaftlichen Diskurs durchzusetzen. Damit liefert sie eine Perspektiverweiterung bestehender Studien, indem sie die Rückbindung individualisierter Religiosität an Gemeinschaftskonstruktionen beleuchtet und in bestehende gesellschaftliche und innerislamische Machtverhältnisse einordnet.