Sicherheitsproduktion und Expertenwissen: Atomgefahr und Katastrophenversicherung in Deutschland, 1955-1986
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die wirtschaftliche Nutzbarmachung der Atomenergie zählte zu den gewaltigsten Herausforderungen, mit denen sich das internationale Versicherungswesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konfrontiert sah. Da vertiefende Studien zur Risikopolitik der Privatversicherung im Allgemeinen selten sind und zur Atomrisikopolitik im Besonderen nicht vorliegen, kann die im Rahmen des Projekts erstellte Dissertation eine wichtige Lücke in der jüngeren Versicherungsgeschichte schließen. Jenseits der versicherungshistorisch relevanten Ergebnisse17 versteht sich die Studie darüber hinaus als ein Beitrag zu den Verschränkungen des historischen Wandels von institutioneller Risikopolitik und gesellschaftlichem Sicherheitsdenken. Überraschend waren dabei die vielschichtigen Überblendungen zwischen dem speziellen Versicherer- und dem allgemeinen Sicherheitsdiskurs über die Kernkraft, insbesondere im Zuge der nuklearen Kontroverse der siebziger Jahre, als die Risikopolitik der Assekuranz zu einem gesellschaftlichen Politikum avancierte. Die bereits im Antrag formulierte verschränkte Untersuchungsperspektive auf Ökonomie, Politik und Gesellschaft hat sich daher als fruchtbar erwiesen. Die Studie leistet insofern einen empirischen Beitrag zu den historischen Verflechtungen von Wirtschaft und Kultur, die in den letzten Jahren immer wieder diskutiert worden sind. Die historische Erforschung des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Umgangs mit Risiken im 20. Jahrhundert steht noch ganz am Anfang. Auch die in den letzten Jahren boomende zeithistorische Sicherheitsforschung hat die Rolle der Assekuranz bislang nur spärlich beleuchtet. Im Hinblick auf zukünftige zeithistorische Studien mögen die Projektergebnisse dafür sensibilisiert haben, dass es spannend und gewinnbringend sein kann, einen vermeintlich sperrigen Akteur wie die Versicherungswirtschaft hier einzubeziehen. Dies bietet sich insbesondere für die jüngste Zeitgeschichte an: Denn bündelt man die Projektergebnisse abschließend, so scheint sich das Verhältnis von Assekuranz und Gesellschaft seit den siebziger Jahren im Umbruch zu befinden, zumal sich in dieser Zeit die Anatomien gegenwärtiger Risikokonflikte herauszubilden begannen. In der Öffentlichkeit treten Versicherungen seither verstärkt als Wissensakteure auf, die eine spezielle Gefahren- und Zukunftsexpertise offerieren, was als Indiz für eine zunehmende Ökonomisierung gesellschaftlicher Risikodiskurse interpretiert werden kann. Wie die Debatten nach Fukushima, aber auch über die Folgen des Klimawandels gezeigt haben, spielen die „Grenzen der Versicherbarkeit“ in der gesellschaftlichen Risikokommunikation nach wie vor eine zentrale Rolle. Dem Bedeutungsverlust der Assekuranz als ökonomischer Sicherheitsproduzent entspricht mithin ihr Bedeutungszuwachs als gesellschaftliche Gefahrensonde – ein Wahrnehmungs- und Funktionswandel, der in den tiefgreifenden soziokulturellen Umbrüchen der siebziger Jahre seinen Ausgang genommen hat, offenbar bis in die Gegenwart fortdauert und der weiteren Erforschung durch die Zeitgeschichte bedarf.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- The Futures of the Past. Fukushima and its impacts on nuclear energy development in Germany and the USA
Christoph Julian Wehner
- Tagungsbericht HT 2010: Grenzen der Sicherheit – Grenzen der (Spät-)Moderne?, in: Historisches Forum 13 (2010), S. 166-172
Christoph Julian Wehner
- Atomgefahr, Sicherheitsproduktion und Versicherungsexpertise in der Bundesrepublik und den USA, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 582-605
Christoph Julian Wehner
- Atomgefahr, Sicherheitsproduktion und Versicherungsexpertise in der Bundesrepublik und den USA, in: Meik Woyke (Hg.): Wandel des Politischen. Die Bundesrepublik Deutschland während der 1980er Jahre (= Einzelveröffentlichungen aus dem Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 3), Bonn 2013, S. 585-610
Christoph Julian Wehner
- Rezension von: Scott Kaufman: Project Plowshare. The Peaceful Use of Nuclear Explosives in Cold War America, in: Sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013]
Christoph Julian Wehner
- Die Versicherung der Atomgefahr. Risikopolitik, Sicherheitsproduktion und Expertise in der Bundesrepublik Deutschland und den USA 1945–1986. Wallstein Verlag Göttingen, 427 S., 2017 (Dissertation)
Christoph Julian Wehner