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Auswirkungen der Staatsgrenze auf die Sprachsituation im Oberrheingebiet

Antragsteller Professor Dr. Peter Auer
Fachliche Zuordnung Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft, Experimentelle Linguistik, Typologie, Außereuropäische Sprachen
Förderung Förderung von 2012 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 209847041
 
Erstellungsjahr 2017

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Im Projekt wurde die Entwicklung der alemannischen Dialekte im links- und rechtsrheinischen Grenzgebiet vom Nieder- ins Hochalemannische nahe der Schweizer Grenze bis zum nördlichen Übergangsgebiet ins Südfränkische in 43 grenznahen Dörfern sowie den dahinter liegenden Städten untersucht. Als Vergleich diente die Sprache älterer, ortsfester Gewährspersonen, wie sie in den Regionalatlanten aus den 1970er Jahren dokumentiert wurde. Anders als damals wurden jedoch zusätzlich zur Dialektabfrage ("Dialektwissen") auch die Spontansprache, und zusätzlich zu älteren Personen mit landwirtschaftlich-handwerklichem Hintergrund auch jüngere Menschen und solche aus "kommunikationsorientierten" Berufen in das Untersuchungsdesign aufgenommen (in Baden insgesamt 175 und im Elsass insgesamt 121 Personen). Die Analyse von zehn Dialektmerkmalen, die im Untersuchungsgebiet variabel realisiert werden, zeigte, dass die elsässischen Dialekte fast unverändert geblieben sind. Im Elsass sind die Dialekte sehr konservativ; allerdings verliert das Elsässische selbst in den Dörfern immer mehr Sprecher/innen. In Baden sind die Dialekte zwar weit verbreitet, sind aber einem rapiden Wandel unterworfen, der besonders in der Spontansprache und besonders bei den jüngeren Gewährspersonen zur Ausbreitung regiolektaler und sogar standardnaher Sprechweisen anstelle der dialektalen geführt hat. Vor allem kleinräumige Dialektmerkmale und solche, die aufgrund alter, vom Elsass ausgehender Innovationen den Rhein nur in begrenzten Arealen von Westen nach Osten überschritten haben, werden heute abgebaut. Daraus ergibt sich, dass die Rheingrenze zunehmend zu einer Dialektgrenze wird. Im Projekt wurden auch die in Baden und im Elsass herrschenden stereotypen Vorstellungen ("représentations sociales/sociolinguistiques") von den sprachlichen Varietäten und den Menschen im Oberrheingebiet untersucht. Auf beiden Seiten wird das Elsässische als der stärkere, breitere Dialekt wahrgenommen. Allerdings verschwindet vor allem bei den jüngeren Gewährspersonen in Baden zunehmend jeder direkte Kontakt mit dem Elsässischen, weil diese Generation größtenteils nicht mehr über Erfahrungen in der grenzübergreifenden Verwendung des alemannischen Dialekts verfügt. Vor allem im südlichen Untersuchungsgebiet (Markgräfler Land, Oberelsass) hat uns die Unkenntnis über und das Desinteresse an der gegenüberliegenden Region überrascht. Das geht so weit, dass einige badische Informantinnen und Informanten trotz der Grenznähe ihres Wohnorts angeben, keine Aussagen über das Elsässische treffen zu können, weil sie es noch nie gehört hätten. Viele Gewährspersonen fühlen sich ausschließlich als "Franzosen" oder "Deutsche" und bestreiten ihren Alltag innerhalb der Grenzen des eigenen Nationalstaats. Für sie endet die Lebenswelt am Rhein. Auf beiden Rheinseiten gibt es aber auch noch vor allem ältere Personen, die eine gemeinsame alemannische Identität sehen; nationale und regionale Identität konkurrieren dann miteinander. Diese regionale Identität wird auf der badischen Seite tendenziell höher gewichtet als auf der elsässischen. Die Sprachwahl in der grenzüberschreitenden Kommunikation (soweit sie noch stattfindet) wird von beiden Seiten teilweise als problematisch gesehen. Die Deutschen berichten häufig von Fällen des kommunikativen Scheiterns, was sie regelmäßig mit dem rechtsrheinisch weit verbreiteten Stereotyp begründen, dass Elsässer mit Deutschen "nicht Deutsch reden wollen" (obwohl sie es könnten). Umgekehrt verstehen die Elsässer das sprachliche Verhalten der Deutschen im Elsass als übergriffig und anmaßend; für sie ist der Dialekt lediglich ein Medium für die familiäre Interaktion, während in der Öffentlichkeit französisch gesprochen wird. Sie sehen das Elsass nicht als Teil des 'deutschen Sprachraums', in dem dieselben Regeln der Sprachwahl und Sprachverwendung gelten würden wie in Baden.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2019) Grenzüberschreitende Identitäten im badischen Oberrheingebiet: Unterschiede in der Konstruktion sprachlicher und regionaler Verbundenheit mit dem Elsass. LO (Linguistik Online) 98 (5) 329–361
    Pfeiffer, Martin
    (Siehe online unter https://doi.org/10.13092/lo.98.5943)
  • Auswirkungen der Staatsgrenze auf die Sprachsituation im Oberrheingebiet (Frontière linguistique au Rhin Supérieur, FLARS). In: Roland Kehrein, Alfred Lameli und Stefan Rabanus (Hg.): Regionale Variation des Deutschen. Projekte und Perspektiven. Berlin/Boston: de Gruyter, 2015, S. 323-347.
    Auer, Peter, Julia Breuninger, Dominique Huck und Martin Pfeiffer
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110363449-015)
  • Die Frikativierung von intervokalisch -b- im Oberrheingebiet. In: Dialekt und Öffentlichkeit. 19. Arbeitstagung zur alemannischen Dialektologie
    Breuninger, Julia
    (Siehe online unter https://dx.doi.org/10.15496/publikation-9443)
  • Neuere Entwicklungen des Alemannischen an der französisch-deutschen Sprachgrenze im Oberrheingebiet. In: Christen, H., Gilles, P., Purschke, C.(Hrsg.): Räume, Grenzen, Übergänge. Akten des 5. Kongr. der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD). ZDL, 171, Beihefte. Stuttgart: Steiner, 2017, S. 27-44, ISBN 978-3-515-11995-5 (Print) ISBN 978-3-515-11999-3 (eBook)
    Auer, Peter, Breuninger, Julia, Pfeiffer, Martin
  • Das Beste zweier Welten: Das Bild elsässischer Dialektsprecher von den Deutschen, den Franzosen und sich selbst. In: A. Lenz/A. Plewnia (Hrsg.) Variation - Normen - Identitäten. Berlin/Boston: de Gruyter, 2018, S. 5-40.
    Auer, Peter
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110538625-002)
  • Erfahrung und Stereotyp an der elsässisch-badischen Grenze – Repräsentationen der Anderen und ihre narrative Verarbeitung. In: N. Palliwoda, V. Sauer, S. Sauermilch (Hg.): Politische Grenzen – sprachliche Grenzen? Dialektgeographische und wahrnehmungsdialektologische Perspektiven im deutschsprachigen Raum. Berlin/Boston: de Gruyter, 2019, S. 143-178.
    Pfeiffer, Martin, Auer, Peter
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110571110-008)
 
 

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