Filme(n) für eine "bessere Welt" - Filmkritik und Gesellschaftskritik im Westeuropa der Nachkriegszeit in Vergleich, Transfer und Verflechtung
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Mit der abschließenden Monografie "Kritik ohne Grenzen. Nonkonformistische Filmkultur in Italien und Westdeutschland nach 1945 in transnationaler Perspektive" und weiteren Publikationen hat das Projekt dazu beigetragen, Forschungslücken in der westdeutschen und westeuropäischen Kulturgeschichte der Nachkriegszeit zu schließen. Erstmals ist in Detailfülle und in zeithistorischer Kontextualisierung die Gründungs- und frühe Wirkungsgeschichte der Filmkritikergruppe um die Zeitschrift "Filmkritik" (gegründet 1957) dargestellt und erstmals ist ein vergleichbares italienisches Pendant, der Zirkel um die "Cinema Nuovo" (gegründet 1952), in der deutschsprachigen Kulturgeschichtsforschung gründlicher thematisiert worden. Über die reine Erschließungsarbeit hinaus fügen sich die Projektergebnisse in zwei übergeordnete Fragestellungen zu den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Die Analyse dieser beiden gesellschaftskritisch ausgerichteten Filmzeitschriften zielte erstens auf die Fragen nach Mechanismen, Akteuren und Triebkräften des tiefgreifend liberalisierenden Gesellschaftswandels ab, den die westeuropäischen Länder und die USA in den "langen 1960er Jahren" erfuhren. Anhand eines Katalogs an Facetten nonkonformistischer Filmkulturpraxis bestätigte sich die Arbeitshypothese, dass es sich bei diesen Filmkritikern um frühe Exponenten einer europaweiten "Neuen Linken" und um Vorläuferphänomene der 1968er handelte. Sie stellten an Filme und allgemein an Kulturproduktion den Anspruch, zu gesellschaftlichen Missständen aufzurütteln und im Publikum mündige, rationale Staatsbürger in der Demokratie heran zu erziehen. Dies sollte ein kritischer Filmrealismus nach dem Vorbild und in der Weiterentwicklung des italienischen Neorealismus der unmittelbaren Nachkriegszeit leisten. Die Kritikergruppen beider Länder waren nicht nur in Filmdebatten und Auseinandersetzungen mit den christdemokratischen Kulturpolitiken verwickelt, sie attackierten über ihr Metier hinaus zudem repressive Politikstile, überkommene Familien- und Frauenbilder, lückenhafte Vergangenheitsbewältigung, den rigiden Antikommunismus und schließlich „Entfremdung“ und "Neokapitalismus" in ihren Heimatgesellschaften der frühen Boom-Jahre. Um 1968 nahmen sie teils auch direkt die tagespolitischen Anliegen der Studierenden auf, blieben dabei insgesamt aber in der Rolle einer Zwischengeneration, die andere Protestformen gewohnt war und die in einigen spezifisch filmtheoretischen Fragen keinen Konsens mit dem Kritikernachwuchs fand. Diese Faktoren nonkonformistischer Filmkultur im Zeitverlauf von fast zwei Jahrzehnten sind im Forschungsprojekt zweitens durchgehend an die Frage nach transnationalen Einflüssen, Kontakten und Austauschen im Sinne einer "Histoire croisée" zurückgebunden worden. So wurde rekonstruiert, dass die "Cinema Nuovo" bereits früh fest eingebunden war in ein internationales Netzwerk mehr oder weniger linksgerichteter und gesellschaftskritischer Filmautoren, die beispielsweise die Filmfestivals in West- und Osteuropa als Begegnungspunkte nutzen. Die im Vergleich jüngeren Mitarbeiter der ´"Filmkritik" suchten im filmkulturell zurückgefallenen Nachkriegsdeutschland Inspiration und Ansporn im überwiegend westeuropäischen Filmausland, im cineastischen Habitus der Pariser Intellektuellen und im kritischen italienischen Realismus als Richtschnur der eigenen Filmarbeit. Allmählich wuchsen auch sie in das Netzwerk hinein und tauschten schließlich in gleicher Intensität wie ihre italienischen Vorbilder Artikel aus, besuchten Kollegen und fungierten als Korrespondenten. Mit diesen weitgehend "europäisierten", kaum einmal "amerikanisierten" Anleihen trugen sie maßgeblich zur Belebung und Modernisierung der westdeutschen Filmkultur unter kritischen Vorzeichen bei.