Strategien des Umgangs mit der Begrenztheit kognitiver Fähigkeiten bei Entscheidungen und ihre Bedeutung für ein normatives Konzept praktischer Rationalität
Zusammenfassung der Projektergebnisse
a. Motivationale Beschränkung: Der motivationale Aspekt beschränkter Rationalität besteht darin, dass eine Person Ziele für realisierenswert hält, die in Konflikt zueinander stehen. Man könnte sagen, eine Person sei im Angesicht unvereinbarer Ziele, die sie für realisierenswert hält, in verschiedene Selbste aufgespalten, sie liege also im Konflikt mit sich selbst. Damit ist zum einen gesagt, dass es keine übergeordnete Rationalität gibt, die uns die Entscheidung darüber, welches Ziel wir verfolgen sollen, abnehmen könnte, und zum anderen, dass es deshalb keine optimale Vernünftigkeit bzw. kein Optimum im Erreichen von Zielen gibt. Innerhalb unserer qualitativ-empirischen Forschung im Umfeld von Hospizen zeigte sich folgende Beobachtung: Im Hinblick auf Einzel- und Teamentscheidungen kann es aufgrund dieser komplexen Lage nicht um die Suche nach einer „optimalen Lösung“ gehen. Vielmehr spielt die sukzessive Anpassung des Anspruchs, dem (auch mutmaßlichen) Willen des Gastes zu entsprechen, um sein Wohl zu befördern, eine Rolle, die nach zufriedenstellenden Lösungen Ausschau hält. b. Prinzip Reziprozität: Die Gebote der Nächsten- und Feindesliebe wie die Goldene Regel kann nach dem Prinzip der Reziprozität gedeutet und als „Maß-für-Maß-Strategie“ bezeichnet werden, die nicht der passiven Anpassung an das Handeln anderer Akteure, sondern der aktiven Einflussnahme dient. Im Fall positiver Reziprozität kann daraus der Versuch der Etablierung von Kooperation entstehen, im Fall negativer Reziprozität der Versuch der Überwindung von Defektion. Empfohlen wird eine Verhaltensweise, die mit einem Vorteilskalkül einhergeht, wenngleich eine motivational begründete Reziprozität nicht ausgeschlossen werden kann. Ob die Handlung eines Akteurs als freundlich oder feindlich eingestuft wird, entscheidet sich deshalb auch am Kooperationsideal: Wird es zu hoch angesetzt, kann es durch scheinbar „feindliche“ Handlungen leichter enttäuscht werden. c. Wandel der Semantik: Ideengeschichtlich zeigt sich das Phänomen beschränkter Rationalität in der Beschäftigung mit der spätscholastischen bzw. frühneuzeitlichen moralischen Semantik, an der eine Erweiterung menschlicher Autonomie gegenüber dem göttlichen bzw. natürlichen Recht in medizinethischen Kontexten ablesbar ist, und zwar in der Reflexion auf Situationen der Unsicherheit. Dies kommt zum Ausdruck, wenn beispielsweise Handlungsziele als nicht direkt intendiert behandelt werden oder die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel aufgeworfen wird.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Ethical decision-making in hospice care, in: Nursing Ethics 21 (2014), 1-10
Andreas Walker/Christof Breitsameter
(Siehe online unter https://doi.org/10.1177/0969733014534873) - Ethische Entscheidungen in Hospizen, in: (Springer) 25 (2014), 301-313
Christof Breitsameter/Andreas Walker
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s00481-012-0217-5) - Liebe - Formen und Normen, Verlag Herder: Freiburg i. Br. 2017 (Lizenzausgabe Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2017), 448 S.
Christof Breitsameter
- Das Gebot der Liebe - Kontur und Provokation, Verlag Schwabe (Studien zur theologischen Ethik, Bd. 152): Basel 2018, 358 S.
Christof Breitsameter