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Gesundheit und Medizin im politischen, sozialen und intellektuellen Katholizismus des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918)

Fachliche Zuordnung Wissenschaftsgeschichte
Förderung Förderung von 2006 bis 2010
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 21584598
 
Erstellungsjahr 2010

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Zur historischen Erforschung der prominenten Rolle, die in Deutschland die christlichen Kirchen im Gesundheitswesen spielen, wurden als erster Versuch einer Zusammenschau drei große Bereiche des Katholizismus im Kaiserreich untersucht: die gesundheitspolitischen Positionen von Zentrumspartei und Verbänden („politischer Katholizismus“), das kirchliche Engagement in der Krankenversorgung („sozialer Katholizismus“) und die theologische Diskussion der Medizin sowie die ärztliche Diskussion religiös relevanter Probleme („intellektueller Katholizismus“). Im sozialen Bereich zeigte sich kirchliches Engagement vermehrt in den vom Staat vernachlässigten ländlichen Regionen. Durch die katholische Landkrankenpflege wurde vielerorts der erste Schritt zu einer gemeindenahen gesundheitlichen Grundversorgung unternommen. Handelten die kirchlichen Akteure hier innovativ, waren anderenorts Beharrungstendenzen so offensichtlich, dass sich die Kirche der öffentlichen Debatte stellen musste. Das gilt für die Problemfelder der Überforderung von Ordensschwestern in der Krankenpflege, der Hygienestandards kirchlicher Einrichtungen und der Missstände in der Psychiatrie, wie sie im breit diskutierten „Alexianerskandal“ zum Ausdruck kamen. Auch die Forderung, Ordensschwestern als Hebammen einzusetzen, zeugt vom Antagonismus zwischen den Anforderungen moderner Medizin und den kirchenrechtlichen Vorgaben. Diese und andere Probleme der medizinischen Praxis standen in einem engen Zusammenhang mit verschiedenen innerkirchlich geführten Debatten. Diskursteilnehmer waren neben dem hohen Klerus und einzelnen, gesundheitspolitisch interessierten Priestern (oft an der Spitze von Verbänden) die Ordensgemeinschaften und die sich im zunehmenden Maße organisierenden Berufsgruppen des Gesundheitswesens, vor allem die katholischen Ärzte. Während in Politik und Gesundheitswesens vor allem der Wettbewerb mit anderen Akteuren, insbesondere aus dem staatlichen Bereich und dem Protestantismus, zur bestimmende Kategorie wurde, war der moraltheologische Kurs stärker von binnenkirchlicher Selbstvergewisserung geprägt. Dabei fiel die Bezugnahme auf außerkirchliche Veränderungen je nach Problembereich sehr unterschiedlich aus. In der Frage des Lebensbeginns wurden die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Befruchtung vollständig einbezogen. Hingegen war in der Abwägung zwischen verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten eine größere Skepsis gegenüber dem medizinischen Fortschritt bestimmend, es wurde nicht verlangt, sich zur Lebenserhaltung „außergewöhnlichen“ Maßnahmen zu unterziehen. Verbunden mit der starken Rezeption der von Ärzten verfassten pastoralmedizinischen Literatur im Klerus ist demnach nicht von einer generell (natur)wissenschaftsfeindlichen Einstellung auszugehen, wohl aber von großer Sorge, dass aus materialistischer und religionsfeindlicher Einstellung eine Verschiebung bisheriger Wertehierarchien drohte. Auf Seiten katholischer Ärzte war die Bereitschaft, sich Vorgaben des römischen Lehramtes und der moraltheologischen Handbücher anzupassen, unterschiedlich ausgeprägt, von einer grundsätzlichen Relevanz und Praktikabilität wurde jedoch zumeist ausgegangen. Die Forschungen des Projekts haben auf diese Weise zeigen können, dass und wie das Gesundheitswesen ein Feld war, auf dem sich die Auseinandersetzung des Katholizismus mit Modernisierungsprozessen in exemplarischer Weise abspielte: mit gesellschaftlicher Pluralisierung, mit neuen Domänen der säkularen Wissenschaften, mit veränderten technischen Möglichkeiten. Dabei ergeben sich schon Anzeichen der Auflösung des gerade erst – nicht zuletzt durch Seelsorge-Bischöfe und Kulturkampf – gebildeten konfessionellen Milieus: Die Gesundheitspolitik forderte Koalitionen, die praktischen Notwendigkeiten in Gesundheitseinrichtungen verhinderten strikte konfessionelle Grenzziehungen und die Loyalitätskonflikte katholischer Ärzte zwischen römischem Lehramt und medizinischen Lehrstühlen wurden nicht immer zugunsten der Moraltheologie entschieden. Auf der anderen Seite zeigten sich in katholischen Einrichtungen und Persönlichkeiten bei ihrer Identitätssicherung beispielhaft Formen der Selbstbehauptung, die gegenüber nutzenoptimierenden Tendenzen in Staat und Medizin die Möglichkeit und Notwendigkeit von Werteorientierung in eigenständigen Institutionen und persönlichen Überzeugungen aufzeigten – und damit Vorläufer späterer zivilgesellschaftlicher Optionen mit ihren Grundsätzen von Subsidiarität und Gewissensfreiheit gegenüber dem Staat und den von ihm unterstützten Strömungen wurden.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2009), Magie und Besessenheit in Übersee. Der Diskurs über das fremde Okkulte um 1900, in: Barbara Wolf-Braun (Hg.): Medizin, Okkultismus und Parapsychologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert = Frankfurter Studien zur Geschichte und Ethik der Medizin 2 (Wetzlar: GWAB-Verlag) 45-68.
    Bruchhausen W
  • (2009), Medicine between Religious Worlds. The mission hospitals of South-East Tanzania during the 20th century, in: Mark Harrison/Margret Jones/Helen Sweet (Hg.), From Western Medicine to Global Medicine. The Hospital Beyond the West (Hyderabad: Orient BlackSwan) 172-197.
    Bruchhausen W
  • (2009), Wahnsinn oder Heilungsweg, Teufel oder Ahnen? Ostafrikanische Geistmedien unter deutscher und britischer Herrschaft, in: Marcus Hahn/Erhardt Schüttpelz (Hg.), Trancemedien und Neue Medien um 1900. Ein anderer Blick auf die Moderne (Bielefeld: transcript) 173-197.
    Bruchhausen W
  • (2009), „… das Mystische wissenschaftlich und nicht das Wissenschaftliche mystisch zu machen“ - Joseph Ennemoser als Mesmerist und Medizinprofessor in Bonn (1819-1937), in: Ellen Hastaba/Siegfried de Rachewiltz (Hg.), „Für Freiheit, Wahrheit und Recht!“ Joseph Ennemoser und Jakob Phillipp Fallmerayer. Tirol von 1809 bis 1848/49 (Innsbruck: Universitätsverlag Wagner) 95-112.
    Bruchhausen W
  • (Vortrag 2009), Künstliche Frühgeburt oder Sectio? Die Diskussion der pathologischen Geburt im Kaiserreich. Vortrag auf der Jahrestagung der Niederrheinisch- Westfälischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Köln 18.6.2009
    Bruchhausen W
  • Das katholische Gesundheitswesen des Kaiserreichs im Wettbewerb. Zu Auseinandersetzungen mit Andersgläubigen, säkularen Einrichtungen und innerkirchlicher Konkurrenz, in: Groß, D/ Karenberg Al (Hg.), Medizingeschichte im Rheinland. Beiträge des „Rheinischen Kreises der Medizin-historiker“ (Kassel 2009) (= Schriften des Rheinischen Kreises der Medizinhistoriker, Bd. 1) 277-288
    Forsbach, R
 
 

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