Ambivalente Bilder: Fotos und Bildpostkarten aus Südamerika im Deutschen Reich, ca. 1880-1930
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt untersuchte die Vorstellung von Südamerika, wie sie dem deutschen Publikum in visuellen Medien vermittelt wurde. Es handelt sich um eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Medien- und Wissensgeschichte des europäisch-südamerikanischen Kulturkontaktes. Das Wissen von Europäern um Südamerika ist seit der frühen Neuzeit, als der Kontinent Ziel der europäischen Expansion wurde, durch Bilder vermittelt worden. Diese Bildüberlieferung erhielt im 19. und frühen 20. Jahrhundert neue Impulse: Fotos und später Bildpostkarten zeigten den Menschen im Deutschen Reich ein ambivalentes Bild des fremden Kontinents, das mit bestehenden Vorstellungen und Projektionen zusammenwirkte, aber auch mit diesen konkurrierte. Die Ambivalenz des Südamerikabildes wird deutlich in den Motiven, denn die Bildmedien zeigten einerseits Eisenbahnen und Bahnhöfe, Stadtansichten, repräsentative Gebäude, Häfen, Zoos und Fabriken. Ein ganz anderes Bild zeichneten dagegen Ansichten von Indigenen und Ruinen. Auf den ersten Blick scheinen die Quellen so insgesamt eine bekannte Dichotomie aus Tradition und Moderne zu zeigen. Aber die genauere Untersuchung ergibt, dass sich hybride Bedeutungen bildeten, deren Sinn je nach Nutzungszusammenhängen oszillierte. Methodisch ist dies mit Ansätzen zum Kulturkontakt, zu transferts culturels und zu Transkulturation sowie wissenschaftsgeschichtlichen Überlegungen, unter anderem zur Popularisierung von Wissen, zu analysieren. Denn es waren in erster Linie Forscher, die den Menschen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik Südamerika mit Fotos „vor Augen führten“: Die zu untersuchenden Bildmedien sind einem Netzwerk deutscher Südamerikaforscher u.a. um Hans Hinrich Brüning, Rudolf Hauthal, Paul Ehrenreich, Max Uhle, Hans Meyer, Wilhelm Sievers, Charles Kroehle, Georg Hübner, Theodor Koch-Grünberg, Robert Lehmann-Nitsche, Arthur Posnansky, Friedrich Christian Mayntzhusen, Walther Schiller, Theodor Herzog, Rudolf Lütgens, Walther Penck und Hans Krieg sowie den Schweden Erland Nordenskiöld, seinen Cousin Otto Nordenskjöld und Gustaf Bolinder, von denen viele Arbeiten in deutscher Übersetzung erschienen, zuzuordnen. Die meisten der zu untersuchenden Bilder stammen aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay und Peru, einige aus den angrenzenden Ländern Ecuador und Kolumbien. Dort waren die Forscher tätig. Der Untersuchungszeitraum von den 1880er Jahren bis ca. 1930 umfasst zum einen die Zeit, in der die genannten Männer in Südamerika aktiv waren. Zum anderen wurde um 1880 auch die Autotypie entwickelt. Dabei handelte es sich um das erste Verfahren, das mithilfe von Rastern den Druck fotografischer Bilder und damit ihre massenhafte Verbreitung in Büchern, Zeitschriften und etwas später auf Bildpostkarten ermöglichte. Aus der Unmenge des von den Forschern überlieferten visuellen Quellenmaterials wurde nur jenes für die Untersuchung herangezogen, das durch Publikation (Monografien, Zeitschriftenaufsätze) die Möglichkeit hatte, die (populär)wissenschaftliche Öffentlichkeit zu erreichen. Dazu wurden weitere mit Fotos illustrierte zeitgenössische Publikationen zu einzelnen Ländern, Regionen oder zu Südamerika insgesamt analysiert. Mit der Bildpostkarte wurde darüber hinaus ein Medium in die Untersuchung einbezogen, das zwar seit einigen Jahren auch in der Geschichtswissenschaft verstärkte Aufmerksamkeit erfährt, aber bislang zumindest im südamerikanischen Kontext nicht systematisch in umfassendere Untersuchungen einbezogen wurde. Auch über dieses Medium wurde das Wissen um Südamerika und die dort lebenden Menschen popularisiert. Während zu den Bedingungen der Wissensproduktion in Südamerika und zu einzelnen Beständen visuell vermittelten Wissens bereits einige Arbeiten vorliegen, ist die Ebene der Wahrnehmung der zu untersuchenden Visualisierungen bislang stark vernachlässigt worden. Theoretisch knüpft das Projekt diesbezüglich an erkenntnistheoretische Überlegungen und Studien zur Wahrnehmung sowie an historisch-soziologische Forschungen zur Konstruktion von Alterität und Identität an. Bezüglich der analytischen Ebene des Blicks liegt die Annahme zugrunde, dass verschiedene Betrachter von Bildern diese zwar verschieden „sehen“ (abhängig von ihrem Vorwissen, ihren Einstellungen, ihrer Stimmungslage etc.), dass es gleichwohl aber Codes gibt, die bei Angehörigen einer Gruppe mit gemeinsamer kultureller Prägung ähnliche Reaktionen auslösen. Zwar lässt sich nicht genau ermitteln, wie welches Bild auf welchen Betrachter wirkte – dazu fehlen schlicht die Quellen. Es kann aber festgestellt werden, dass die Bilder Teil von Diskursen waren.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Visiones y visualizaciones: La nación en tarjetas postales sudamericanas a fines del siglo XIX y comienzos del siglo XX, in: Iberoamericana 14, Nr. 56, 2014, S. 47-69
Onken, Hinnerk
(Siehe online unter https://dx.doi.org/10.18441/ibam.14.2014.56.47-69) - “Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit”. Colonial Imagination and Photographs from South America in Weimar Germany, in: Krobb, Florian und Martin, Elaine (Hrsg.): Weimar Colonialism: Discourses and Legacies of Post-Imperialism in Germany after 1918 (Postkoloniale Studien in der Germanistik, Bd. 6), Bielefeld: Aisthesis, 2014, S. 145-166
Onken, Hinnerk
- Frühe Bildpostkarten aus Südamerika im Deutschen Reich, in: Ziehe, Irene und Hägele, Ulrich (Hrsg.): Gedruckte Fotografie (Visuelle Kultur: Studien und Materialien, Bd. 10), Münster: Waxmann, 2015, S. 194-215
Onken, Hinnerk
- Indigene und Eisenbahnen, Ruinen und Metropolen: Fotos und Bildpostkarten aus Südamerika im Deutschen Reich, ca. 1880-1930, in: Visual History. Online-Nachschlagewerk für die historische Bildforschung, 07.12.2015
Onken, Hinnerk
- Postcards from Latin America, in: Fischer, Manuela und Kraus, Michael (Hrsg.): Exploring the Archive: Historical Photography from Latin America. The Collection of the Ethnologisches Museum Berlin, Köln: Böhlau, 2015, S. 151-173
Onken, Hinnerk
- Collecting Picture Postcards of South America, in: Beezley, William (Hrsg.): The Oxford Research Encyclopedia of Latin American History, Januar 2016
Onken, Hinnerk
(Siehe online unter https://dx.doi.org/10.1093/acrefore/9780199366439.013.314)