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Die lokale Realität der Depression in Kerala: Glokalisierung des Depressionskonzeptes im biomedizinischen Kontext und Subjektivität der Depression

Fachliche Zuordnung Ethnologie und Europäische Ethnologie
Förderung Förderung von 2012 bis 2018
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 218893774
 
Erstellungsjahr 2017

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist Depression keine objektive Entität, obwohl sie im medizinischen Diskurs und in klinischer Praxis oft als solche auftritt. Stattdessen ist die medizinische Kategorie Depression das Ergebnis von spezifischen historischen und kulturellen Entwicklungen und Konfigurationen. Was passiert mit der Kategorie Depression, wenn sie den Westen verlässt und woanders hinkommt? Wie wird Depression in einer vom medizinischen Pluralismus gekennzeichneten Gesellschaft Südasiens angeeignet? Wie interagiert diese Kategorie mit lokalen Welten? Ich bin der Depression in Kerala in verschiedene Kontexte der psychiatrischen Versorgung in Kerala gefolgt und habe versucht zu verstehen, was passiert mit dieser Kategorie, wie wird sie verändert, wie verändert sie soziale Welten, klinische Praxis, Subjektivitäten? Mehr als andere indische Staaten sieht sich Kerala als eine „society in distress“. „Worry has replaced dysentery“, brachte ein Psychiater den epidemiologischen Wandel von Infektionserkrankungen zu nichtübertragbaren und psychischen Krankheiten auf den Punkt. Die schwankenden, aber stets hohen Zahlen, die in Medienberichten zirkulieren, konstituieren und stabilisieren Depression als schwerwiegendes Gesundheitsproblem und bezeugen die Rekonfiguration und Pathologisierung von emotionalem Leiden. Die allgemeine Wahrnehmung – angeheizt von Gesundheitsstatistiken und Medienberichten – beschreibt nicht nur den rasanten Anstieg von Depression in den letzten Jahrzehnten, sondern auch die Depressionsraten als die höchsten in ganz Indien. Dieser Zuwachs wird in Kerala verbunden mit größeren soziokulturellen Transformationen in den letzten Jahrzehnten und gewöhnlich formuliert als ein Narrativ von Krise. Während der Hauptteil der allopathischen Versorgung von Depression von Psychiatern, Allgemeinärzten und anderen Medizinern – und zu einem gewissen Teil Psychologen – im privaten Bereich getragen wird, ist es ein Ziel staatlicher Gesundheitsprogramme, psychische Erkrankungen im allgemeinen und Depression im besonderen vermehrt in die öffentliche primäre Gesundheitsversorung, eines der Hauptpfeiler des „Kerala model of health“, einzubeziehen. Keralas umfassendes System von staatlicher „primary health care“ wird damit ausgeweitet und hat nun auch innere Gefühle, emotionales Leiden und existenzielle Verweiflung im Visier. Diese Verschiebung ist nicht nur eine Folge des epidemiologischen Wandels in Kerala, sondern vor allem auch das Ergebnis von komplexen globalen, nationalen und lokalen Prozessen, Depression als eine „public health“-Kategorie sichtbar zu machen und zu stabilisieren. Dabei stellen lokale Phänomenologien von Depression die subjektive Ebene der Aneignung von Depression dar und bezeugen, wie sich Depression in Kerala etabliert. Philosophisch-phänomenologische Theorien von Depression müssen erweitert werden, um der Pluralität von kulturell und historisch geprägten Phänomenologien Rechnung zu tragen. Diese lokalen Phänomenologien von Depression sind sowohl verkörpert (embodied) als auch psychisch und emotional (mindful) und stehen in enger Beziehung mit lokalen Konzepten und Erfahrungen von Körper, Psyche und Emotionen und mit normativen Regimen. Die meisten Patienten drückten Depression durch somatische Symptome aus, die eng verbunden sind mit lokalen Physiologien und oft auf eine physio-moralische Ätiologie und Konzeption von Depression hindeuten. “Embodiments” und lokale Phänomenologien von Depression beziehen sich auf ein Kontinuum von physiologischen, kognitiven, emotionalen, sozialen und moralischen Prozessen und Erfahrungen und können nicht klar auf der Binarität von Psychologisierung und Somatierung (als “maskierte Depression”) von Depression abgebildet werden. Gleichzeitig trägt das Konzept von somatisierter Depression zu einer Erweiterung des Depressionskonzeptes in Kerala bei.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • “Transforming the Self and Healing the Body through the Use of Testimonies in a Divine Retreat Centre, Kerala”, Journal of Religion and Health 51 (2): 542-551
    Claudia Lang, Eva Jansen
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s10943-011-9564-7)
  • „The Ayurvedic Appropriation of Depression: Biomedicalizing Ayurvedic Psychiatry”, Medical Anthropology 32(1):25-45
    Claudia Lang, Eva Jansen
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1080/01459740.2012.674584)
  • „Trick or Treat? Muslim Thangals, psychologisation and pragmatic realism in Northern Kerala, India“, Transcultural Psychiatry 51(6):904-923
    Claudia Lang
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1177%2F1363461514525221)
  • Depression Multiple: Ayurveda and mental health care in 21st century India, Habilitationsschrift, Ludwig-Maximilian-University Munich, Germany, November, 2016
    Claudia Lang
  • “Translation and Purification: Ayurvedic Psychiatry, Allopathic Psychiatry, Spirits and Occult Violence in Kerala, South India”, Anthropology & Medicine
    Claudia Lang
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1080/13648470.2017.1285001)
  • Depression in Kerala. Ayurveda and Mental Health Care in 21st-Century India, Routledge, 2018. 340 S.
    Claudia Lang
    (Siehe online unter https://doi.org/10.4324/9781351001366)
 
 

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