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Mythophile und mythoklastische Moderne. Konstellationen literarischer Mythos-Rezeption 1900-1950.
Antragsteller
Dr. Matthias Löwe
Fachliche Zuordnung
Germanistische Literatur- und Kulturwissenschaften (Neuere deutsche Literatur)
Förderung
Förderung von 2012 bis 2016
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 221902257
Um 1900 gebrauchen viele Intellektuelle den Mythos-Begriff wie eine okkulte Beschwörungsformel. Im Jargon der Jahrhundertwende bezeichnet ›Mythos‹ kein modernes Wissen über die Weltdeutungsnarrationen vormoderner Kulturen, sondern einen nicht-rationalen Weltaneignungsmodus. In der Mythos-Begeisterung kommt mithin die Haltung eines bestimmten Intellektuellen-Typs zum Ausdruck, der sich nach dem Aufgehoben-Sein in einem morallosen Naturzustand ohne individuelle Verantwortung sehnt. Vorstellungen einer antiken Archaik fungieren dabei oft als Projektionsfläche für diese Sehnsucht und im frühen 20. Jahrhundert kann man eine regelrechte Überproduktion von Antiken-Dramen beobachten, in denen Instinkte und mythisches Denken das Figurenhandeln bestimmen. Diese Texte behaupten, anthropologische Universalien zu formulieren, im Lichte derer sich die Moderne und ihre Leitidee der Autonomie als Trugbild enthüllen: Stattdessen wüte im Menschen der ›blinde Wille‹ wie das Schicksal über den Figuren moderner Mythendramen. – In den 1930er Jahren wird die moderne Mythophilie sich selbst verdächtig: Schriften wie Alfred Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts« (1930) oder die ideologische Indienstnahme antiker Tragödien auf nationalsozialistischen Bühnen offenbaren ihr Missbrauchspotential. Texte, die nun mythische Stoffe literarisieren, stehen vor der Schwierigkeit, im Namen des Mythos den Sinnverlust der Moderne zu beklagen, ohne in ideologische Nähe zum Nationalsozialismus zu geraten. Es stellt sich die Frage, ob man an Potentialen mythischer Bestände festhalten kann, ohne damit einen Entzug von Freiheitsspielräumen zu legitimieren. Gerade die Literatur der 1930er und 1940er Jahre reagiert auf dieses Problem mit einer spezifischen Formensprache: Autoren wie Thomas Mann hinterfragen die Gefahren der Mythos-Begeisterung ausgerechnet, indem sie Mythen des Alten Testaments neu ästhetisieren. Offenkundig waren diese eher geeignet für eine Verteidigung von moderner Autonomie und Individualität. – Ausgehend von diesen Beobachtungen, erschließt das Projekt erstmals systematisch, dass es sich bei der literarischen Antike- und Bibel-Rezeption im frühen 20. Jahrhundert um konträre Konstellationen ein und desselben kulturellen Feldes handelt, auf dem Intellektuelle im Gewand antiker oder biblischer Mythen gegeneinander Position beziehen und in einer bis heute offenen Debatte um die Legitimität der Moderne streiten. – Untersuchungsgegenstand sind paradigmatische Romane und Dramen, aber auch Opernlibretti der ersten Hälfte 20. Jahrhunderts, die entweder ›Archetexte‹ der antiken Mythologie oder des Alten Testaments neu ästhetisieren, nämlich Hugo von Hofmannsthals »Elektra« (1903), Hans Henny Jahnns »Medea« (1926), Thomas Manns »Josephsroman« (1933-43), Arnold Schönbergs Opernfragment »Moses und Aron« (1932), Richard Strauss’ Oper »Daphne« (1938), Gerhart Hauptmanns »Atriden-Tetralogie« (1941-48) und Bertolt Brechts »Antigone-Modell« (1948).
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen