Schülerzeitungen der 1950er und 1960er Jahren in der Bundesrepublik. Artefakte gymnasialer Schulkulturen und ihr Bedeutungswandel
Zusammenfassung der Projektergebnisse
In diesem Forschungsprojekt wurden jenseits einer Strukturgeschichte die Veränderungen der Schulkultur an Einzelschulen unter besonderer Fokussierung der Schüler_innenperspektive an historischem Material untersucht, das selbst Teil der schulischen Praxis war. Die Rolle, die eine Schülerzeitung an einer Schule einnehmen konnte, erwies sich als abhängig von der Konstellation einzelschulischer Faktoren und Bedingungen, ihrer Schulkultur. Gleichzeitig prägten sie die Schulkultur und spiegelten als Druckzeugnisse deren Wandel. Ihre Bedeutung als Forschungsgegenstand besteht darin, dass sie 1.) die allmähliche Transformation der Schulkultur in Praktiken sichtbar werden lassen und 2) selbst diese Transformation beförderten, indem sie autoritäre Restriktionen ebenso wie die Ideale, von denen die deutsche gymnasiale Bildungsidee getragen wurde, an den Schulen praktisch unterlaufen und ersetzt haben. Die im europäischen Vergleich beispiellose Verbreitung von Schülerzeitungen in der Bundesrepublik wurde im Projekt quantitativ dokumentiert und in ihrer Qualität näher bestimmt. Der sich in der raschen flächendeckenden, regional fast unspezifischen Ausbreitung ausdrückende Erfolg von Schülerzeitungen in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war nicht vorprogrammiert und steht etwa deutlich im Kontrast zum radikalen Scheitern von Formen demokratischer Schülerselbstverwaltung nach 1918. Gemessen an den damaligen Intentionen zeigen sich die wesentlich weiter reichenden Funktionen der Schülerzeitungen in Schulkulturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie schufen zunächst eine neuartige Transparenz des Gymnasiums. Die meisten Schülerzeitungen waren nicht als Aushängeschild der Schulen gedacht. Sie gewährten vielmehr kritische Einblicke in die Schule und ließen die reformpädagogischen Idealvorstellungen einer sich darin bildenden Schulgemeinschaft bald hinter sich. Gleich ob von der Schulleitung intendiert und befördert oder bloß toleriert, wurde diese zuvor nicht übliche Form der Öffnung der Schule durch das massenhafte und regelmäßige Erscheinen von Schülerzeitungen seit den 1950er Jahren zu einem selbstverständlichen Kennzeichen schulischer Kulturen in der Nachkriegszeit. Die Schülerzeitungen erfüllten so tatsächlich die im Kontext der Politik der Re-orientation der Besatzungsmächte stehenden demokratischen Gründungsintentionen und setzten sich besonders seit den 1960er Jahren als die glaubwürdigere Partizipationsvariante von der SMV ab. Schülerinnen und Schülern dienten sie als ein Betätigungsfeld, das sie schon im arbeitsteiligen Herstellungsprozess durch praktisches Tun Selbstwirksamkeit erfahren ließ und die kollektive Verständigung über ihren Eigensinn beförderte. Das geschah vor allem im jugendkulturellen Sektor, der über die Zeitungen Eingang in das Schulische fand und hier zu einer an den US-amerikanisch geprägten westlichen Lebensstilofferten orientierte Liberalisierung, Pluralisierung und Popularisierung gymnasialer Schulkulturen beitrug. Doch auch schulisch intern verschoben Schülerzeitungen die autoritären und konservativen Strukturen, die in der frühen Nachkriegszeit das Gymnasium noch beherrschten. Eine zwar respektvoll-diplomatische, aber doch tendenziell egalisierende und humorvolle Artikulationsweise griff von der eigentlichen peerinternen Ansprache („von Schülern für Schüler“) auf längere Sicht auch auf die Kommunikation mit der Lehrer_innenschaft über. Der sich schon in den 1950er Jahren deutlich abzeichnende Wandel des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, den die Schülerzeitungen zumeist durch taktvolle Vermittlung von Altem und Neuem mit einleiteten, war das Feld, das die Forschungsergebnisse des Projektes am eindrucksvollsten zum Ausdruck brachte.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2012): School magazines: participation and democratization in West German school culture during the 1950s and 1960s. In: C. Aubry & J. Westberg (Hrsg.): History of Schooling. Politics and Local Practice. Frankfurt am Main: Peter Lang, 251-270
Scholz, J. & Gippert, M.
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(2012): „Schülerzeitungen der 1950er und 60er Jahre als schulkulturelle Artefakte.“ In: K. Priem, G. M. König & R. Casale (Hrsg.): Die Materialität der Erziehung: Kulturelle und soziale Aspekte pädagogischer Objekte (= 58. Beiheft der „Zeitschrift für Pädagogik“). Weinheim und Basel: Beltz, 105-123
Reh, S. & Scholz, J.
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(2014): „Mobilization of Knowledge in the ‘Cold War’ – Education, Technology and Science in West-German School Magazines in the 1950s and 1960s“. International Standing Conference for the History of Education (ISCHE), London, Great Britain
Reh, S. & Scholz, J. & Gippert, M. & Kabaum, M.
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(2015): The change of authority relationships in West German grammar schools in the 1950s and 1960s. International Standing Conference for the History of Education (ISCHE), Istanbul, Türkei
Kabaum, M. & Gippert, M.
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(2015): „‚Die Schülerzeitung geht alle an!‘ Aus der Arbeit eines Forschungsprojektes der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung.“ Zeitschrift für Museum und Bildung 79, 101-115
Kabaum, M. & Gippert, M.
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(2017): Schulische Artefakte zwischen 1950 und 1970 – Die Gestaltung und Herstellung westdeutscher Schülerzeitungen. In: J. Stiller & C. Laschke (Hrsg.), Berlin-Brandenburger Beiträge zur Bildungsforschung. 2016. Frankfurt am Main: Peter Lang, 35-73
Kabaum, Marcel
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(2017): Zwischen Partizipation und Zensur: jugendeigene Presse und Meinungsfreiheit in der Schule während der 1950er und 1960er Jahre. Mit einer Darstellung der derzeitigen schulrechtlichen Situation. In: Zeitschrift für Pädagogik, 63. Jg, H. 6
Marcel Kabaum
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(2017): „Der Blick westdeutscher Schülerinnen und Schüler in den 1950er und 1960er Jahren auf Jugendkultur und die USA. Ein Vergleich ihrer Darstellungen in Schülerzeitungen.“ In: Hüser, D. (Hrsg.): Populärkultur transnational: Lesen, Hören, Sehen, Erlebe
Kabaum, M.