Von heroischen Bürgern, tapferen Rittern und liebenden Hirten:Mittelalterbilder in Frankreich im Vorfeld der Großen Revolution
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt ging von der Ausgangsbeobachtung einer v.a. ab der Mitte des 18. Jahrhunderts regen französischen Mittelalterbeschäftigung in allen Rezeptionsbereichen (gelehrt, literarisch-produktiv und -reproduktiv sowie populär) aus. Dabei galt die Revision des größtenteils kaum erschlossenen Textmaterials der Zeit der Korrektur zweier hartnäckig sich haltender Forschungsmeinungen im Hinblick auf die Bewertung des Mittelalters und seiner Literatur: Erstens sollte das in der Tradition der humanistischen Mittelalterkritik stehende und darum als besonders ‚finster‘ abqualifizierte Mittelalterbild der Lumières durch entsprechende Detailstudien – sowohl differenzierend nach einzelnen Aufklärern als auch erweiternd auf die gesamte Kultur- und Literaturlandschaft des 18. Jahrhunderts – relativiert werden. Zweitens sollte die Existenz eines positivierenden ‚hellen‘ Mittelalterbildes schon im ausgehenden Siècle des Lumières und nicht erst in der postrevolutionären Ära mit den die endgültig ‚verlorene‘ mittelalterliche Vergangenheit nostalgisch verklärenden Romantikern nachgewiesen und dementsprechend deutlich vordatiert werden. Auf dieser Basis ließ sich unter Rückgriff auf gedächtnistheoretische Ansätze die Hauptthese von koexistierenden und häufig miteinander konkurrierenden Erinnerungskulturen rund um den Projektgegenstand des Mittelalters und seiner Literatur formulieren. Die dynamischen Beziehungen zwischen diesen Kulturen führten zu unterschiedlichen Fragestellungen, welche dazu dienen sollten, die bis dato von der Forschung postulierten Machtverhältnisse neu zu bestimmen. Erstens war das geistig-kulturelle Klima im 18. Jahrhundert einer genaueren Prüfung zu unterziehen und die Relation zwischen der angeblichen Leitkultur der philosophes und den zahlreichen Subkulturen – wie etwa diejenigen aristokratisch-rückwärtsgewandter oder modisch-populärer Erinnerungsgemeinschaften – auszuloten. Zweitens trat auf einer politisch-sozialen Ebene das Verhältnis zwischen absoluter Monarchie, Adel und Bürgertum mit dem Fokus auf deren ideologisch divergierende Vergangenheitsaneignungen resp.-vereinnahmungen in den Blick. Drittens waren die Interdependenzen zwischen nationalen und regionalen Erinnerungskulturen und in diesem Zusammenhang etwa die unterschiedliche Bedeutung und Gewichtung geschichtlicher Mythen und literarischer Stoffe zu untersuchen. Das im Antragsschreiben skizzierte Arbeitsprogramm konnte in seinen groben Zügen wie geplant umgesetzt werden. Bis Förderungsbeginn konnte die Phase des Bibliographierens der einschlägigen Primär- und Sekundärliteratur in Fachbibliographien und Online-Datenbanken zu den einzelnen, im Zentrum des Projektinteresses stehenden Autoren und Werken vorläufig abgeschlossen werden. Das erste Förderjahr diente zum einen der grundlegenden Einarbeitung in die politischen, geistes-, wissenschafts-, sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Kontexte der Zeit sowie in rezeptionstheoretische und erinnerungskulturwissenschaftliche Methoden und Modelle und zum anderen der Konzeptionierung des Projektthemas durch Auswahl und Gliederung exemplarischer Texte zur Analyse. Im zweiten Jahr der Förderung begann dann die Verschriftlichung erster Interpretationsergebnisse, wobei nicht wie beabsichtigt eine Modellanalyse von Mme de Genlis’ umfangreicher Chevaliers du cygne-Trilogie (ca. 1.300 Seiten) an den Anfang gestellt wurde, sondern zunächst jeweils ein dem kriegerischen, dem höfischen und dem ländlichen Mittelalter zugeordneter, kürzerer – und darum überschaubarerer – Text (nämlich Merciers Childéric Premier, Baculard d’Arnauds Sargines und Florians Estelle) beispielhaft untersucht und dann erst die größere Modellanalyse angeschlossen wurde. Im dritten Förderjahr wurde die Verschriftlichung weitergeführt, d.h. die drei thematischen Analysekapitel durch die restlichen vorgesehenen Textinterpretationen ergänzt, und mit der Niederschrift des einleitenden Konzeptkapitels beendet. Schließlich erfolgten insbesondere abschließende Arbeiten in Form von Überarbeitungen kleinerer, ergänzender Aufsatzstudien sowie die Endredaktion der Dissertationsschrift für die Publikation. Sämtliche geleisteten Analysen bestätigten die im Projektantrag formulierte These, dass in der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts diverse, zum Teil in Konkurrenz zueinander stehende Erinnerungskulturen im Hinblick auf das literarische und historische Erbe des Mittelalters existieren. Diese können differenziert werden nach unterschiedlichen Erinnerungsträgern (gelehrten, literarischen, populären Rezipientenkreisen / Einzelpersonen), Erinnerungsgattungen (vom Schauerroman über die moderne Adaption bis zur comédie-féerie) und Erinnerungsinhalten (kriegerisch, höfisch, ländlich). Weder darf die Mittelalterbeschäftigung im Siècle des Lumières auf ein einziges, pejoratives Mittelalterbild der philosophes reduziert werden, noch darf eine beginnende Veränderung in der Einstellung zur mittelalterlichen Vergangenheit in Richtung einer Wertschätzung oder gar Idealisierung erst in der Romantik angenommen werden. Die Öffnung der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung auch für tendenziell populäre Produktionen erschließt der Fachwelt ein breites Panorama der Mentalitäten im 18. Jahrhundert, die auch wertvolle Erkenntnisse bei der Anwendung auf andere, gerade frühere Jahrhunderte zutage fördern könnte.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- 2014: „Fortschrittskult vs. Sehnsucht nach der ‚guten alten Zeit‘. Zeitbewusstsein und Geschichtsmodelle im 18. Jahrhundert bei Voltaire und de Fontanes.“ In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 64, S. 429-445
Wörsdörfer, Anna Isabell
- 2015: „Märchen, Ritterromane, Reiseberichte und noch viel mehr. Streiflichter auf einen nicht ganz unbedeutenden Polygraphen des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Charles- Joseph de Mayer).“ In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes 39, 317-345
Rieger, Dietmar
- 2015: „Vom ‚bon sauvage‘ zum französischen Ritter par excellence. Die ‚Matière de Bretagne‘ als Streitobjekt konkurrierender Erinnerungskulturen in Jean-Pierre Claris de Florians Mittelalternovelle Bliombéris (1784).“ In: promptus - Würzburger Beiträge zur Romanistik 1, S. 229-251
Wörsdörfer, Anna Isabell
- 2016: Von heroischen Bürgern, tapferen Rittern und liebenden Hirten. Literarischen Mittelalterbilder im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Heidelberg, Winter (Studia Romanica 205)
Wörsdörfer, Anna Isabell
- 2016: „Romanfiktion und Mediävalismus im 18. Jahrhundert. Ein Mittelalterroman von 1770 (Les deux frères) und seine ‚mittelalterliche‘ Vorlage.“ In: Romanische Forschungen 128, S. 57-74
Rieger, Dietmar
(Siehe online unter https://doi.org/10.3196/003581216818143207)