Vom Nachrichtenwert zum Diskussionswert: Ursachen, Bedingungen und Folgen von Anschlusskommunikation auf massenmedialen Websites
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Kommentare von Nutzerinnen und Nutzern auf Internetseiten von Nachrichtenmedien und in Sozialen Netzwerkdiensten sind ein fester Bestandteil der öffentlichen Meinungsäußerung im Internet. Im Projekt wurde untersucht, wann und warum Menschen Online-Nachrichten auf welche Art und Weise kommentieren. Dafür wurde auf etablierte Theorien der Kommunikationswissenschaft zurückgegriffen (v.a. die Nachrichtenwert-Theorie), die erweitert und in einem neuen theoretischen Analyserahmen des von uns so bezeichneten „Diskussionswerts“ zusammengeführt wurden. Demzufolge sollte eine Nachricht z.B. insbesondere dann intensiv kommentiert werden, wenn sie viele Nachrichtenfaktoren (z.B. Negativität, Kontroverse, Schaden etc.) enthält, wenn bereits einige wertgeladene Kommentare unter der Nachricht veröffentlicht wurden, wenn der Aufwand des Kommentierens für die Nutzer möglichst gering ist und wenn sie die Nachricht oder die bereits vorhandenen Kommentare kognitiv oder emotional involvieren. Die Komponenten des Analyserahmens wurden anhand von qualitativen Interviews sowie einer qualitativen Inhaltsanalyse exploriert. Das erste zentrale Ergebnis ist, dass Nutzer tatsächlich nur Nachrichten kommentieren, zu denen sie eine persönliche Verbindung auf emotionaler oder kognitiver Ebene herstellen können (sog. Involvement). Je nach Art des Involvements entsteht das Bedürfnis, einen durchdachten oder impulsiv-emotionalen Kommentar zu verfassen. Zweitens zeigt die Untersuchung, dass bereits veröffentlichte Nutzerkommentare den Diskussionswert einer Nachricht für spätere Nutzer in einem dynamischen Zusammenspiel mit den Eigenschaften der Nachricht bilden. Kontroverse Kommentare können z.B. eine „konfliktarme“ Nachricht diskussionswürdiger machen, gleichzeitig können zu viele aggressive Kommentare spätere Nutzer trotz eines diskussionswürdigen Themas vom Kommentieren abhalten. Ein dritter zentraler Befund ist, dass Nutzer ein Kommentierbedürfnis nur umsetzen, wenn die Diskussionsarchitektur einer Website möglichst benutzerfreundlich ist (Usability) und eine gewisse Community-Atmosphäre (Sociability) vermittelt. Viertens zeigt sich, dass das Kommentieren für Nutzer vielfältige Funktionen der interpersonalen und Massenkommunikation erfüllt, darunter das Erhalten von Anerkennung, aber auch das Schaffen von Gegenöffentlichkeiten und die Bewahrung der persönlichen Autonomie bei der Nachrichteninterpretation. Anschließend wurde der Einfluss der Komponenten des Mikro-Analyserahmens quantitativ untersucht. Eine Inhaltsanalyse von 700 Nachrichten und 12.000 Nutzerkommentaren auf verschiedenen Plattformen zeigt, dass hinsichtlich der Eigenschaften von journalistischen Nachrichten vor allem Nachrichtenfaktoren der Dimensionen Kontroverse und Nähe einen Einfluss auf die Kommentierbereitschaft von Nutzern und auf die Qualität der Diskussionen (konstruktiv vs. destruktiv) haben. Bezüglich des Einflusses bereits veröffentlichter Kommentare auf das Diskussionsverhalten späterer Nutzer konnte gezeigt werden, dass die Diskussionsfaktoren Unsicherheit, Kontroverse, Verständlichkeit, Negativität und Personalisierung Diskussionen zwischen den Nutzern fördern. Im Hinblick auf die Diskussionsarchitektur spielt insbesondere das Vorhandensein und die Art der journalistischen Community-Moderation eine wichtige Rolle. Die Befunde des Projekts sowie die erhobenen Daten bieten zahlreiche Möglichkeiten zur Anschlussforschung und stellen Journalisten darüber hinaus „Stellschrauben“ zur Verfügung, über die sie die Qualität und Quantität der Nutzerdiskussionen zu einem gewissen Grad regulieren und darüber ein zivileres Diskussionsklima herstellen können, das konstruktive Diskussionen über öffentlich relevante Themen ermöglicht. Folgende Berichterstattung (Auswahl) über das Projekt zeugt vom Interesse der Publikumsmedien: 2013: „Vom Artikel zum Aufreger: Forscher untersuchen Online-Kommentare“. Rhein-Main-Zeitung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 2014: „Mein digitaler Stammtisch“. http://goo.gl/YqoDFU 2014: „The types of stories and comments that promote comment-section engagement“. Artikel auf americanpressinstitute.org. http://goo.gl/IvKIFB 2015: „Anonymen Senf dazu geben: Projekt ‚Mein digitaler Stammtisch‘ in Mainz untersucht Online-Kommentare. Allgemeine Zeitung Mainz. http://goo.gl/aB8UaQ 2015: „Von Trollen und Shitstorms: Wenn sich die Wut im Internet entlädt.“ Beitrag in SWR2. http://goo.gl/9jHqih 2015: Harsche Töne am Stammtisch 2.0“. JGU-Magazin. http://goo.gl/qTjGwQ 2016: „Wie umgehen mit Hasskommentaren im Netz?“ Beitrag in hr info. Verfügbar unter http://goo.gl/DBj9pe 2016: „Mit Humor gegen Hass – wie Journalisten mit den Nutzern diskutieren.“ Beitrag in epdmedien
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
-
(2018) The dynamics of online news discussions: effects of news articles and reader comments on users’ involvement, willingness to participate, and the civility of their contributions. Information, Communication & Society 21 (10) 1419–1435
Ziegele, Marc; Weber, Mathias; Quiring, Oliver; Breiner, Timo
-
(2013): Conceptualizing Online Discussion Value. A Multidimensional Framework for Analyzing User Comments on Mass-Media Websites. Annals of the International Communication Association (ehemals Communication Yearbook), 37, 125-153
Ziegele, Marc & Quiring, Oliver
-
(2014): What Creates Interactivity in Online News Discussions? An Exploratory Analysis of Discussion Factors in User Comments on News Items. Journal of Communication, 64, 1111-1138
Ziegele, Marc, Breiner, Timo, & Quiring, Oliver
-
(2016): Not Funny?! The Effects of Factual versus Sarcastic Journalistic Responses to Uncivil User Comments. Communication Research
Ziegele, Marc & Jost, Pablo
-
(2016): Nutzerkommentare als Anschlusskommunikation. Theorie und qualitative Analyse des Diskussionswerts von Online-Nachrichten. Wiesbaden: Springer VS
Ziegele, Marc