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Indikation und Bedeutung jugendrichterlicher Weisungen gem. § 10 JGG.

Fachliche Zuordnung Kriminologie
Förderung Förderung von 2013 bis 2016
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 236562996
 
Erstellungsjahr 2016

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Projekt hat sich mit jugendrichterlichen Weisungen nach § 10 JGG befasst: d. h. genauer ihrer Indikation, ihren Inhalten und ihrer Bedeutung für Theorie, Praxis und Wirkungen ihres Einsatzes als nichtstationäre Maßnahme des Jugendstrafrechts. Diese Weisungen sind in zwei Leitgedanken für einen verhältnismäßigen und zugleich effektiven Umgang mit (wiederholter) Jugenddelinquenz eingeflochten (1) „Soweit wie möglich kein Strafrecht“, (2) „wenn aber doch Strafrecht, dann soweit wie möglich keine Kriminalstrafe“. Im Weiteren impliziert dies, dass Erziehungsmaßregeln, und spezifisch Weisungen, konzeptuell keineswegs auf „Bagatellen“ oder „kleines Unrecht“ konzentriert oder gar reduziert werden können, sondern vielmehr als quasi Basisreaktion in Betracht kommen, solange nicht andere Aspekte/Ziele der strafrechtlichen Antwort auf Straftaten zwingend hinzukommen oder sogar eindeutig dominieren. In einer in das Projekt eingebundenen Analyse haben wir die Entwicklung eines separaten Jugendstrafrechts bzw. -verfahrens unter aufwändigem Suchen nach originalen Quellen spezifisch für die USA schon aus der frühesten Zeit nachverfolgt. Von anderen Erträgen abgesehen: Bereits in den ersten Manifestationen der Idee von einem „anderen“ Umgang mit jungen sozialauffälligen, delinquenten bis frühkriminellen (Kindern und) Jugendlichen während der 1830er Jahre, zunächst in Philadelphia (Pennsylvanien), also Jahrzehnte vor dem ersten eigenständigen Juvenile Court für das Illinois Cook County (in Boston) im Jahr 1899, war den Aktiven / Reformern die auch heute noch relevante Problemlage klar: Einerseits die Balancierung von Elternrechten und Staatseingriffen bei der Erziehung schwierig gewordener bzw. delinquent ausagierender Kinder, andererseits die Verringerung bis Vermeidung von Kriminalstrafen zugunsten von materialer Erziehung und Förderung, schließlich aber gerade auch die Gewährleistung von Verfahrensrechten, weil und insofern es um die Reaktion auf rechtswidrige Handlungen geht, die bei Strafmündigen als „Straftat“ definiert sind. Es gibt hoch interessante frühe, und in den USA heftig diskutierte, später hin und wieder umgedeutete, Gerichtsentscheidungen, die dem nachmalig so genannten Prinzip des „Parens Patriae“ auch hier die Gültigkeit und Anwendbarkeit des für den regulären Strafprozess unbestrittenen Prinzips des „Due Process of Law“ entgegenhielten. Auf dem Weg von drei empirischen Zugängen wurde im Projekt der aus bundesweiten Datenanalysen entwickelten und vorläufig belegten Hypothese nachgegangen, dass die Weisungen, nach einem langjährigen Trend ihrer Verdrängung quantitativ vor allem durch ambulante Zuchtmittel und zudem zugleich qualitativ durch den Jugendarrest und die (verstärkt ausgesetzte) Jugendstrafe, wieder an Zahl und Gewicht gewonnen haben: (1) Eine exemplarisch auf Forschungsdatenbänder aus dem Statistischen Landesamt Baden-Württemberg gestützte, Einzeldatensätze zu jugendgerichtlichen Entscheidungen verwertende, Längsschnittuntersuchung zu quantitativen und qualitativen Aspekten jugendrichterlicher Entscheidungen insgesamt und insbesondere von Entscheidungen zu ausgewählten, für Jugendliche bedeutsamen, Straftatenkategorien. (2) Eine Aktenanalyse von jugendrichterlichen Entscheidungen im Landgerichtsbezirk Tübingen. (3) Eine Befragung von aktiven Jugendstaatsanwälten und Jugendrichtern im Land Baden-Württemberg. Dabei wurde durchweg deutlich: Die Praxis ist wieder vermehrt bereit, Weisungen „zu Lasten“ von Zuchtmitteln und Jugendstrafen einzusetzen. Diese Bereitschaft umfasst auch, bei Vergehen sehr deutlich und selbst bei Verbrechen auf kleinerem Level erkennbar, mittelschwere bis schwere Straftaten. Mit Weisungen bedachte Jugendliche zeigen eine große Palette von Verhaltensauffälligkeiten bzw. Störungen auf, womit ersichtlich wird, dass die Praxis bereit und in der Lage ist, gezielt strafvermeidende Lösungen zu entwickeln. Ein von uns auf der Basis verschiedener Quellen (weiter) entwickeltes „Multiaxiales Schema zur Dokumentenauswertung“ hat zum einen gezeigt, dass die Praxis neben kriminalitätsfördernden Merkmalen auch kriminalitätsmindernde einbezieht. Dieses Schema könnte künftig, ggf. in modifizierter Form, als hilfreiches Instrument zur Fallanalyse im Alltag und auf allen Ebenen des Verfahrens eingesetzt werden, auch zur verbesserten gegenseitigen inhaltlichen Verständigung sowie materiell koordinierten Problemlösung.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Begünstigung junger Straftäter durch die Anwendung materiellen Jugendstrafrechts? Vergleichende Betrachtungen aus grundrechtlicher und empirischer Perspektive. In: Thomas Rotsch, Janique Brüning und Jan Schady (Hrsg.): Strafrecht – Jugendstrafrecht – Kriminalprävention in Wissenschaft und Praxis. Festschrift für Heribert Ostendorf zum 70. Geburtstag am 7. Dezember 2015. Baden-Baden: Nomos 2015, S 465-481
    Hans-Jürgen Kerner / Philipp A. Karnowski / Anke Eikens
  • „Jugendgewalt“ in massenstatistischer und in lebensgeschichtlicher Perspektive: Methodische und inhaltliche Betrachtung anhand neuerer Befunde. In: Britta Bannenberg u.a. (Hrsg.): Über allem: Menschlichkeit. Festschrift für Dieter Rössner zum 70. Geburtstag. Baden-Baden: Nomos 2015, S. 193-219
    Hans-Jürgen Kerner / Philipp Karnowski
 
 

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