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Demografisierung des Politischen? Eine intersektionale Analyse deutscher Familien- und Migrationspolitik seit Mitte der 1990er Jahre

Antragstellerin Dr. Susanne Schultz
Fachliche Zuordnung Soziologische Theorie
Politikwissenschaft
Wissenschaftsgeschichte
Förderung Förderung von 2013 bis 2020
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 241415806
 
Erstellungsjahr 2019

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Forschungsprojekt hatte zum Ziel, den Bedeutungsgewinn demografischen Wissens und demografiepolitischer Strategien in der deutschen Familien- und Migrationspolitik seit Mitte der 1990er Jahre zu untersuchen. Das Projekt analysierte mit dem Fokus auf diese beiden Politikfelder nicht vorrangig Strategien der Anpassung an einen prognostizierten demografischen Wandel, sondern Strategien der Gestaltung der nationalen Bevölkerungsgröße und -zusammensetzung. Es stellte also die Frage nach der Entwicklung einer neuen deutschen Bevölkerungspolitik. Auf der Grundlage des Konzepts der Demografisierung wurde demografisches Wissen und Demografiepolitik in einen engen Zusammenhang gestellt, und die Entwicklung „demografischer Rationalitäten“ insbesondere anhand der Untersuchung demografischer Politikberatung herausgearbeitet. Begleitet wurde die empirische Analyse von einer fortlaufenden staatstheoretisch fundierten intersektionalen Reflektion der spezifischen Charakteristika von Prozessen der Demografisierung. Drei Dimensionen von Demografisierungsprozessen stellten sich als besonders wichtig heraus: Erstens stellte das Projekt die Effekte des methodologischen Nationalismus in der demografischen Politikberatung heraus. Zweitens wurde das Verhältnis zwischen durchschnittlichen quantitativen Problematisierungen (der nationalen Nettomigrationsrate oder der nationalen Geburtenrate) und qualitativ hierarchisierenden Politikstrategien (des Fokus pronatalistischer Familienpolitik auf die deutschen Mittelschichten oder der Fokus in der Zuwanderungspolitik auf Hochqualifiziertenanwerbung) als zentral bearbeitet. Drittens legte das Projekt einen Fokus auf die Bedeutung von Zukünftigkeit für aktuelle Demografiepolitik, mit wichtigen Effekten statistischer Wissensproduktionen und insbesondere von Bevölkerungsvorausberechnungen. Methodologisch unterteilte sich der Forschungsprozess in drei Schritte: Auf der Grundlage von Interviews mit Wissenschaftler_innen aus regierungsnahen Think Tanks, demografiepolitisch relevanten Gremien, einflussreichen Stiftungen und der Ressortforschung wurden in einer ersten Forschungsphase der Aufbau und die Weiterentwicklung einer bundesdeutschen Demografiepolitik in den beiden Politikfeldern im Rahmen einer interpretativen Policy-Analyse untersucht. In einer zweiten Forschungsphase wurde auf der Grundlage einer historisch-materialistischen Kontextanalyse die Entwicklung von für die beiden Politikfelder relevanten gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen rekonstruiert, um auf dieser Grundlage die für das Projekt einer Demografisierung wichtigen Hegemonieprojekte herauszuarbeiten. Es wurde untersucht, welche Hegemonieprojekte wie demografische Rationalitäten integrieren und inwiefern sich daraus kontroverse oder auch sich überlappende und bestärkende Bezugnahmen ergeben. In einer dritten Forschungsphase wurden die Entwicklungen in beiden Politikfeldern im Rahmen einer intersektionalen staatstheoretischen Analyse zusammenhängend reflektiert. Wesentliche Ergebnisse des Projektes betreffen für die Familienpolitik erstens die Identifizierung verschiedener Phasen, zwischen eher katastrophistischen oder postkatastrophistischen Rahmungen und diesbezüglich unterschiedlich aufgestellter Hegemonieprojekte. Zweitens wurden kontroversere Konstellationen in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse herausgearbeitet, während sich die klassenselektive Ausrichtung einer nationalen pronatalistischen Politik und auch deren grundsätzliche Zielsetzung, die Steigerung der deutschen Geburtenrate, als kaum umkämpft erwies. In Bezug auf Migrationspolitik arbeitete das Projekt u.a. das Spannungsverhältnis zwischen einer völkisch-nationalen bis nationalkonservativen Zurückweisung von Zuwanderungspolitik als demografiepolitisch relevant und einer spezifischen, neoliberalen und arbeitgeberorientierten Bezugnahme auf eine „demografisierte“ Zuwanderungspolitik heraus. Damit einhergehende unterschiedliche Nationvorstellungen und unterschiedliche Bezugnahmen auf demografische Marker wie die zukünftige „Alterung“ oder die zukünftige („kulturelle“ oder „ethnische“) Bevölkerungszusammensetzung wurden herausgearbeitet ebenso wie die Überlagerung und Eindämmung langfristiger demografischer Rationalitäten durch kürzerfristige flexibilisierte und klassenselektive arbeitsmarktpolitische Rationalitäten.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • 2015: Kinderwunsch-Ökonomie und Kinderwunsch-Verstaatlichung. Ein Streifzug durch aktuelle Konfliktlinien in deutschen Kontexten, in: Kitchen Politics (Hg.): Sie nennen es Leben, wir nennen es Arbeit. Biotechnologie, Reproduktion und Familie im 21. Jahrhundert, edition assemblage, Münster, S. 106-126
    Susanne Schultz
  • 2015: Reproducing the nation: the new German population policy and the concept of demographization, in: Distinktion: Scandinavian Journal of Social Theory, Special issue: Mapping reproduction, Vol. 16, No. 3, S. 337-361
    Susanne Schultz
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1080/1600910X.2015.1080744)
  • Die zukünftige Nation. Demografisierung von Migrationspolitik und neue Konjunkturen des Rassismus, in: movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, Jg. 2, Heft 1/2016 "Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft", S. 117-140
    Susanne Schultz
  • 2017. The Political Economy of Family Planning: Population Dynamics and Contraceptive Markets, in: Development and Change, Focus Issue, Vol. 49, No. 2, S. 259-285
    Susanne Schultz, Daniel Bendix
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1111/dech.12363)
  • 2018: Nation, Kinderwunsch, Humanvermögen – Familienpolitik als Demografiepolitik, in: Katharina Pühl/Birgit Sauer (Hg.): Kapitalismuskritische Gesellschaftsanalyse: queerfeministische Positionen, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 74-92
    Susanne Schultz
  • Demographic Futurity: How Statistical Assumption Politics Shape Immigration Policy Rationales in Germany, in: Environment and Planning D: Society and Space, 26. April 2018
    Susanne Schultz
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1177/0263775818772580)
  • (2020): Humanvermögen und Zeitpolitik als familienpolitische Konzepte in Deutschland. Eine Kritik aus der Perspektive der reproductive justice, in: Regina-Maria Dackweiler/Alexandra Rau/Reinhild Schäfer (Hrsg.), Frauen und Armut – Feministische Perspektiv
    Susanne Schultz, Anthea Kyere
 
 

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