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Bowlby Revisited. Eine Geschichte der Bindungstheorie im 20. Jahrhundert.

Antragstellerin Dr. Claudia Moisel
Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Wissenschaftsgeschichte
Förderung Förderung von 2014 bis 2020
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 250301533
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Als Pionier der Bindungsforschung ist er in die Lehrbücher der Entwicklungspsychologen eingegangen: Der britische Kinderpsychiater John Bowlby, geboren 1907 in London, hat im Kontext der Beveridge-Reformen die sozialpolitische Implementierung von Kinderrechten, den Anspruch auf Soziale Fürsorge, auf Achtung und Würde, Schutz und Zuwendung, damit auf psychische Gesundheit engagiert betrieben (u. a. ‚Children Act’, 1948). Als Abteilungsleiter einer großen Londoner Therapieambulanz (‚Tavistock Clinic’), als ein in medizinischen Fachverbänden organisierter Kinderpsychiater und Psychoanalytiker wie als Gutachter parlamentarischer Expertenkommissionen war Bowlby an der Ausgestaltung normativer Vorstellungen und sozialer Praktiken, damit einer Transformation und Liberalisierung der Erziehungsstile in Familien und Institutionen für Kinder in Großbritannien nach 1945 maßgeblich beteiligt. Bowlbys einflussreiche Studien über Heimkinder für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben in den fünfziger Jahren ‚Mutterentbehrung’ (Deprivation) als zentrale Analysekategorie der frühen Kindheit international etabliert (Bowlby, 1951). Die Grundannahmen der Bindungstheorie, die auf einer zeitgenössisch zunächst breit akzeptierten Vorstellung komplementärer Geschlechterrollen basierten, sind nicht unwidersprochen geblieben, zumal Anfang der siebziger Jahre im Kontext der Zweiten Frauenbewegung. In der Gegenwart jedoch ist mit Bowlbys Namen ein spezifisches Verständnis von Bindung als einem biologisch verankerten Verhaltenssystem zur Aufnahme enger Beziehungen untrennbar verknüpft. ‚Sichere Bindung‘ erfährt als Erziehungsziel in der Ratgeberliteratur erneut breite Aufmerksamkeit (Gebhardt, 2009). Die Studie betont, dass für die neuerliche Akzeptanz seines Konzepts als einer wissenschaftlichen Theorie die Abgrenzung von psychoanalytischen Verfahren einerseits wie auch andererseits die Zusammenarbeit mit der amerikanischen Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth ausschlaggebend gewesen sind: Die qualitativen Beobachtungsverfahren der frühen, vorrangig britisch-französisch geprägten Bindungsforschung wurden in Kooperation mit Ainsworth sukzessive durch strukturierte Datenerhebungsverfahren ersetzt (‚Strange Situation-Test‘). Die Studie versteht sich damit in erster Linie als ein Beitrag zu einer Geschichte der Experten der Kindheit, somit einem spezifischen Aspekt der von Lutz Raphael vielfältig diskutierten ‚Verwissenschaftlichung des Sozialen’ (Raphael, 1996 & 2012). Sie erschließt einen zentralen entwicklungspsychologischen Sachzusammenhang der frühen Kindheit, zugleich Leben und Werk eines bedeutenden psychowissenschaftlichen Sozialexperten: Die ‚London School of Economics’ (LSE) benennt Bowlby auch in der Gegenwart als sozialwissenschaftliche Referenzgröße von Rang (in der Anlage). Darüber hinaus versteht sich die Studie als ein grundsätzliches Plädoyer für eine breite historisierende Erforschung psychowissenschaftlichen Expertenwissens, ohne das die Geschichte der Kindheit im 20. Jahrhunderts kaum angemessen zu erfassen ist. Sie plädiert langfristig für die umsichtige Nachnutzung personenbezogener Einzelfallakten und einschlägiger Rohdaten aus psychologischen Langzeitstudien, die als lebensgeschichtliche Quellen einer zeithistorischen Erfahrungs- und Alltagsgeschichte der Familie und der Erziehung zu bewerten sind.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • William G. Niederland (1904-1993) und die Ursprünge des ‚Überlebenden-Syndroms’, in: Bettina Bannasch u. a. (Hg.), Shoa und Exil, München 2016, S. 103-119 (= Jahrbuch Exilforschung 34)
    Claudia Moisel
  • ‚Weiter leben’: Zur Erfahrungsgeschichte der Wiedergutmachung seit 1945, in: Corine Defrance/Ulrich Pfeil (Hg.), Verständigung und Versöhnung. Deutschland nach dem ‚Zivilisationsbruch’, Frankfurt/M. 2016, S. 659-679
    Claudia Moisel
  • Geschichte und Psychoanalyse. Zur Genese der Bindungstheorie von John Bowlby, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), S. 51-74
    Claudia Moisel
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/vfzg-2017-0003)
  • stefan moses: „Blumenkinder“ – Ein Nachruf
    Claudia Moisel
    (Siehe online unter https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1622)
  • Zwangsarbeit in der Nachgeschichte des Nationalsozialismus, in: Winfried Nerdinger (Hg.), Zwangsarbeit in München, München 2018, S. 54-63
    Claudia Moisel
  • ‚War Reparations‘, in: Encyclopédie pour une histoire numérique de l'Europe
    Claudia Moisel
 
 

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