Szenen - Ein prototypisches Feld zur (Neu-)Verhandlung von Geschlechterarrangements?
Zusammenfassung der Projektergebnisse
In den im Projektvorhaben untersuchten Szenen (Rockabilly, Sportklettern, Visual Kei und K-Pop) werden Geschlechtermuster vorrangig über je spezifische Szenekompetenzen verhandelt. Das heißt, dass in den untersuchten Szenen das Management der Zugehörigkeit als eine Form der Szenekompetenz verhandelt wird, und dass diese Szenekompetenz durchaus geschlechtlich konnotiert ist. Die adäquate Aneignung dieses Wissens und der Umgang mit diesem Wissen im Sinne von Kompetenzen weist darauf hin, ob man als Teil der Szene anerkannt wird. Die Erfüllung der (Kompetenz-)Kriterien können dabei entweder obligatorisch oder aber optional sein, d.h. es gibt bestimmte Aspekte des Wollens, Könnens und Dürfens, die erfüllt werden müssen, um Teil der Szene zu sein und andere, die als unterstützend für die Szenezugehörigkeit gewertet werden können. Allen Aspekten ist jedoch gemein, dass sie geschlechtlich konnotiert sind. So ist die Rockabilly-Szene vorrangig durch ein Authentizitätsideal geprägt, das die 1950er Jahre fokussiert. Das kompetente Umsetzen dieses Authentizitätsideals bezieht sich zum einen auf Ästhetiken (wie Styling, materiale Artefakte etc.), zum anderen auf Wertvorstellungen (etwa zu Interaktionsmodi im sozialen Miteinander). Authentizität in der Rockabilly-Szene ist wiederum eng verknüpft mit einem binären und komplementären Verständnis von Weiblichkeit und Männlichkeit. Dem vorrangigen Ideal der Authentizität liegt also eine binäre Geschlechtercodierung zugrunde. Geschlechtlichkeit wird entsprechend in den ästhetischen Darstellungen, den Wertvorstellungen und den Interaktionsmustern der Szenegänger_innen relevant gemacht. Gerade mit Blick auf den Wertekanon der 1950er Jahre, welcher als Orientierungspunkt der Szene gilt, ist eine Re-Traditionalisierung von Geschlechterarrangements erkennbar. Allerdings wird die Re-Traditionalisierung von den Szenegänger_innen nicht vollumfänglich angestrebt bzw. gelebt, denn sie vertreten ebenso moderne Vorstellungen in Bezug auf das Arrangement der Geschlechter wie beispielsweise die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Dass also eine Abweichung vom szeneeigenen Ideal angesichts der Herausforderungen und Möglichkeiten der Moderne unumgänglich ist, reflektieren die Szenegänger_innen auch selbst, indem sie darauf verweisen, dass sie nur bestimmte Ästhetiken und Wertvorstellungen der 1950er Jahre als relevant setzen. Die Sportkletterszene ist zuvorderst durch einen Gleichheitsdiskurs geprägt, der sich in der szenespezifischen Annahme niederschlägt, dass grundsätzlich jede_r das Sportklettern erlernen kann. In der Sportkletter-Szene wird entsprechend dieses Gleichheitsdiskurses Kompetenz vor allem über das Bewegen beim Klettern ausgehandelt. Menschen, die Sportklettern betreiben, werden innerhalb der Szene nach ihrem jeweiligen Kompetenzniveau sozial differenziert. Auf allen Kompetenzniveaus (niedrig, mittel, hoch) lassen sich neben geschlechtlosen auch eindeutig geschlechtlich konnotierte Differenzierungen erkennen. Die vergeschlechtlichenden Differenzierungen entlang des jeweiligen Kompetenzniveaus haben dabei stets einen wertenden Effekt. Tendenziell lässt sich jedoch eine Abnahme der Relevanzsetzung von Geschlecht mit zunehmendem Kompetenzniveau feststellen. Darüber hinaus zeigen sich gegenwärtig in der Sportkletter-Szene auch – entsprechend des Narratives der Gleichheit – Absichten, Geschlecht hinsichtlich der Wertungen irrelevant werden zu lassen. Die Visual Kei Szene ist in erster Linie durch die Orientierung an Japan als positivem Gegenhorizont gekennzeichnet. Diese Orientierung bezieht sich – gemäß den zwei Schwerpunkten der Szene – auf den szenetypischen Musikstil sowie auf die für die Szene typische ästhetische Selbststilisierung. Die Orientierung an Japan weist wiederum eine dezidiert geschlechtliche Dimension auf, insoweit Szenegänger_innen sich an für Japan als typisch erachteten Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen orientieren und sich kritisch mit vor allem ‚westlichen‘ Männlichkeitsidealen auseinandersetzen. Aus den Orientierungen an Japan und der reflektierten Haltung zu Geschlechterarrangements resultieren in der Visual Kei Szene zwei Aspekte, die die Szenekompetenz bestimmen: zum einen ein normatives Ideal (Offenheit und Respekt gegenüber der Vielfalt von Geschlechtermustern und sexuellen Orientierungen), zum anderen ergibt sich eine szenespezifische visuelle Ordnung, die darauf abzielt, dualistische Geschlechtergrenzen ästhetisch-visuell zu transformieren. In der K-Pop Szene bildet Südkorea den kulturellen Bezugspunkt und fungiert als positiver Gegenhorizont. Die Szenezugehörigkeit ist stringent mit Handlungsmustern verbunden, die wesentlich durch geschlechtlich konnotierte Annahmen geprägt sind. Das zentrale Moment bilden diesbezüglich die Fan-Idol-Interaktionen, denn kennzeichnend für Menschen der K-Pop-Szene ist, dass sie die Idols, also die Stars der K-Pop-Bands, verehren und begehren (auf eine ausschließlich heteroamouröse Weise, selbst wenn dies nicht ihrer je individuellen sexuellen Orientierung entspricht). Ausgedrückt wird das heteroamouröse Verehren und Begehren vor allem über das Fangirling und Fanboying. Auch wenn das szenespezifische Idol-Begehren Analogien zur gesellschaftlich normierten Idealvorstellung einer heterosexuellen, monogamen Liebesbeziehung aufweist, so fungiert die K-Pop-Szene aber auch als symbolischer Rückzugs- und Emanzipationsraum, in dem bspw. auch Queerness erfahren und gelebt werden kann. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Szenen in jedem Fall Orte für Neu-Verhandlungen von Geschlechterarrangements sind, wenn auch mit graduellen Unterschieden und Schwerpunkten. In der Rockabilly-Szene werden traditionelle Geschlechterarrangements in moderne Kontexte und Arrangements überführt und dabei mitunter auch modifiziert. In der Sportkletter-Szene wird trotz bestehender geschlechtlich konnotierter Differenzierungen eine Egalität angestrebt, die auch die körperlich-funktionale Unterscheidung in männlich und weiblich zu überwinden sucht. Die Visual Kei wie auch die K-Pop-Szene sind schließlich als Orte zu verstehen, die ihren Szenegänger_innen nicht nur ideelle, sondern mitunter auch buchstäbliche Schutzräume bieten, um neue Geschlechterarrangements zu erproben und auszuleben, für die sie außerhalb der Szene Diskreditierung bis hin zu Gewalt erfahren würden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2018): Bewegungskompetenz – Sportklettern zwischen (geschlechtlichem) Können, Wollen und Dürfen. Wiesbaden: Springer VS
Kirchner, Babette
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-658-17968-7) - (2018): Nosing Around vor, während und nach Gruppendiskussionen. Beobachtungen und Narrationen zu (geschlechtlicher) Zugehörigkeit und Distinktion in der Rockabilly Szene. In: Norbert Schröer et al. (Hrsg.): Herumschnüffeln – aufspüren – einfühlen. Ethnographie als ‚hemdsärmelige‘ und reflexive Praxis. Essen: Oldib, S. 317–328
Kirchner, Babette/Wustmann, Julia
- (2019): Von Theatral bis Retro – Inszenierung von Männlichkeit(en) in den Szenen Visual Kei und Rockabilly. In: Florian Heesch/Laura Fleischer (Hrsg.): „Sounds like a real man to me” – Populäre Kultur, Musik und Männlichkeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 21–38
Wustmann, Julia/Kirchner, Babette/Meuser, Michael
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-658-22307-6_2) - (2020): Frauen können mehr, aber wollen weniger? Über den Effekt der Situationsdefinition auf die Bewegungskompetenz im Sportklettern. In: Judith von Heyde/Judith Conrads (Hrsg.): Bewegte Körper – bewegtes Geschlecht? Interdisziplinäre Perspektiven auf di
Kirchner, Babette
(Siehe online unter https://doi.org/10.2307/j.ctv13pk8tw.10) - (2021) Ero Guro Nansensu in der Visual Kei Szene – Rekonstruktionen einer phänomenologiebasierten Videoanalyse. In: Eisewicht P., Hitzler R., Schäfer L. (eds) Der soziale Sinn der Sinne. Erlebniswelten. Springer VS, Wiesbaden. S. 185-201
Kirchner, Babette/Wustmann, Julia
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-658-31573-3_11)