Individualisierte HbA1c-Therapieziele für ältere Diabetiker
Epidemiologie und Medizinische Biometrie/Statistik
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die aktuelle deutsche Nationale Versorgungs-Leitlinie „Therapie des Typ-2-Diabetes“ empfiehlt: „Bei Menschen mit Typ-2-Diabetes sollen individualisierte Therapieziele für HbA1c mit dem Patienten vereinbart werden“. Inwieweit Ärzte in Deutschland diese Leitlinienempfehlung umsetzen, war zu Projektbeginn unbekannt. Auch fehlte es an Evidenz, nach welchen Patientencharakteristika die Individualisierung von HbA1c-Therapiezielen vorgenommen werden sollte und welche HbA1c-Werte in den Subgruppen angestrebt werden sollten. Die Befragung von 38 Hausärzten und Diabetologen im Raum Ludwigsburg/Heilbronn im Zeitraum 2012-2014 ergab, dass die weite Mehrheit der Ärzte (88%) höhere HbA1c -Zielwerte für über 60-Jährige Diabetiker als bei jüngeren Diabetikern ansetzen. Hinsichtlich weiterer Faktoren, nach denen HbA1c-Therapieziele individualisiert werden, wurden sehr unterschiedliche Antworten gegeben. Das Herzstück des Projekts war die Identifikation solcher Faktoren bei insgesamt 3.339 50-84-jährigen Diabetikern aus der ESTHER-, DIANA- und NHANES-Studie mit Hilfe des Endpunktes „kardiovaskuläre Mortalität“. Überraschenderweise war weder das Alter noch die Gebrechlichkeit unter den identifizierten Faktoren. Stattdessen zeigte sich, dass derzeitiges Rauchen, Insulin-Therapie und eine Historie von Herzinfarkt oder Schlaganfall Faktoren darstellen, nach denen HbA1c-Therapieziele bei älteren Diabetikern individualisiert werden könnten. Bei Menschen, die keinen dieser drei Faktoren aufweisen, schlagen die Daten einen optimalen HbA1c zur Prävention von frühzeitigem kardiovaskulärem Tod von unter 6,8% vor. Im Bereich 6,8% - 7,5% lag ein Toleranzbereich, bei dem das kardiovaskuläre Risiko im Vergleich zu HbA1c-Werten < 6,8% nur leicht erhöht war. Dieser Toleranzbereich ist mit dem in aktuellen Leitlinien für alle Diabetiker empfohlenen Zielbereich von 6,5-7,5% nahezu identisch. Es kann also gefolgert werden, dass die ausgewerteten Daten in dieser Subgruppe, die ca. 52% aller älteren Diabetiker umfasst, keine Anpassung der HbA1c-Zielwerte im Vergleich zu jüngeren Diabetikern notwendig ist. Anders sah es bei denjenigen ca. 48% aller älteren Diabetiker aus, die entweder noch rauchten, die schon einmal einen Herzinfarkt oder Schlaganfall gehabt haben oder Insulin benötigen. Ihr absolutes Risiko an einem kardiovaskulären Ereignis in den nächsten 10 Jahren zu versterben war so stark erhöht, dass der HbA1c-Wert keine prognostische Aussagekraft für die kardiovaskuläre Mortalität mehr aufwies. Für diesen Endpunkt könnte es somit für diese Subgruppe unerheblich sein, welche HbA1c-Werte durch die Therapie erreicht werden. Bei ihnen könnten auch weniger strenge HbA1c-Zielwerte vereinbart werden, ohne dass das kardiovaskuläre Risiko ansteigt. Diabetiker mit Insulin-Therapie sollte man jedoch von dieser Empfehlung ausnehmen, da die Insulintherapie die HbA1c-Werte senkt und im Rahmen dieser Beobachtungsstudien nicht erkannt werden konnte, welches kardiovaskuläre Risiko ohne die Insulintherapie vorhanden wäre. Die Ergebnisse dieses Projekts sollten möglichst schnell in weiteren Studien überprüft werden. Sollten sich diese Ergebnisse für den Endpunkt „kardiovaskuläre Mortalität“ bestätigen und in ähnlicher Weise auch für andere Diabetes-relevante Endpunkte (z.B. Retinopathie, Niereninsuffizienz oder Polyneuropathie) gefunden werden, sollte die Versorgungs-Leitlinie „Therapie des Typ-2-Diabetes“ dahingehend geändert werden, dass anstelle des Alters, andere Faktoren (Insulin-Therapie, Rauchen und die Anamnese von Herzinfarkt oder Schlaganfall) für die Individualisierung der HbA1c-Therapiezielen bei älteren Diabetikern empfohlen werden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- HbA1c levels in non-diabetic older adults - No J-shaped associations with primary cardiovascular events, cardiovascular and allcause mortality after adjustment for confounders in a meta-analysis of individual participant data from six cohort studies. BMC Medicine 2016; 14(1):26
Schöttker B, Rathmann W, Herder C, Thorand B, Wilsgaard T, Njølstad I, Siganos G, Mathiesen EB, Saum KU, Peasey A, Feskens E, Boffetta P, Trichopoulou A, Kuulasmaa K, Kee F, Brenner H
(Siehe online unter https://doi.org/10.1186/s12916-016-0570-1)