Determinanten und Implikationen fortgesetzter Therapie am Lebensende von Krebspatienten aus Sicht der Angehörigen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Fortgesetzte (oder auch: aggressive) Therapie am Lebesende von Patienten mit Krebserkrankungen beinhaltet a) den Beginn einer neuen Chemotherapie in den letzten 30 Lebenstagen, b) Gabe von Chemotherapie in den letzten 14 Lebenstagen und/oder c) mindestens einen mehrtägigen Aufenthalt auf Intensivstation in den letzten 30 Lebenstagen. Die Häufigkeit aggressiver Therapie in den letzten vier Lebenswochen von Krebspatienten nimmt zumindest in den USA ohne signifikante Lebensverlängerung oder höhere Lebensqualität stetig zu. Das zentrale Ziel der Studie bestand darin, erste Zahlen zur Häufigkeit von fortgesetzter Therapie am Lebensende in Deutschland zu bestimmen. Dazu führten wir eine einmalige Befragung sowie Interviews mit Hinterbliebenen von Patienten mit Krebserkrankungen zur Behandlung in den letzten vier Lebenswochen des Betroffenen durch. Die Patienten waren mindestens einmalig im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg vorstellig, sodass ihre Daten im klinischen Krebsregister hinterlegt waren. Da im Krebsregister selbst keine vollständigen Behandlungsdaten verzeichnet sind, wurden die Hinterbliebenen aufgefordert, Angaben zum Therapieverlauf am Lebensende zu machen. Zudem wurden sie zu Schwierigkeiten im Trauerprozess (Inventory of Complicated Grief-D) befragt und machten Angaben dazu, inwieweit sie die erlebten Behandlungsentscheidungen rückblickend bedauertern (Decision Regret Scale in adaptierter Version). Es nahmen 316 Personen an der Studie teil (Rücklaufrate 47,7%). Der Anteil der weiblichen Probanden betrug 59,9%. Der Altersmedian betrug 64 Jahre. Zwei Drittel (65.6%) der Teilnehmer waren alleinstehend. Der Tod des Krebspatienten lag im Median 26 Monate zurück. Die Zeit zwischen Diagnose und Tod betrug im Median 15 Monate. Es zeigte sich, dass aus Sicht der Hinterbliebenen jeder fünfte (19,2%) Betroffene in den letzten vier Lebenswochen noch eine neue Chemotherapie begann und einer von zehn (10,4%) in dieser Zeit mehr als einen Tag auf Intensivstation verbrachte. Einer von sechs Betroffenen erhielt noch in den letzten 14 Tagen vor dem Tod Chemotherapie (15,9%). Zudem bedauerten Hinterbliebene von Patienten, bei denen die Therapie auch in den letzten vier Lebenswochen im o. g. Sinne fortgesetzt wurde die getroffenen Behandlungsentscheidungen signifikant mehr. Zudem gestaltete sich bei dieser Gruppe von Hinterbliebenen auch der Trauerprozess signifikant schwerer. In den Interviews wurde deutlich, dass a) in den meisten Fällen Angehörige vom Patienten zumindest beratend in Behandlungsentscheidungen miteinbezogen werden und b) in wenigen Fällen Angehörige selbst die führende Rolle in Entscheidungsprozessen einnehmen, obwohl die Patienten physisch dazu fähig wären. Zudem zeigte sich, dass c) der ärztlichen Empfehlung eine sehr hohe Bedeutung zukommt, respektive Patienten und Angehörige dieser großes Vertrauen entgegenbringen und meist sehr schnell folgen. Insgesamt zeigte sich eine unerwartet hohe Häufigkeit von fortgesetzter Therapie am Lebensende, die post mortem mit anhaltend negativerem Empfinden bei Angehörigen assoziiert ist. Die Relevanz der Thematik wird durch eine vergleichsweise hohe Teilnahmebereitschaft der Hinterbliebenen unterstrichen und kam auch in den Interviews zum Ausdruck. Es sollte aber zwingend versucht werden, die hier beschriebenen Ergebnisse in prospektiven Studien und in der Breitenversorgung zu replizieren. Die Studie wurde auf dem wichtigsten deutschsprachigen Forum für Wissenschaftsjournalismus, der 12. WISSENSWERTE in Bremen vorgestellt. Die Hauptergebnisse der Studie wurden auf dem Deutschen Kongress für Versorgungsforschung 2016 in Berlin präsentiert.