Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) von 1950 bis in die 1970er Jahre. Zum Verhältnis von Sexualwissenschaft und öffentlichem Sexualitätsdiskurs.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Positionsbestimmung der westdeutschen Sexualwissenschaft innerhalb des auf verschiedenen Ebenen geführten Aushandlungsprozesses um sexuelle Normen und Wertvorstellungen eröffnete eine neue Perspektive auf die bundesrepublikanische Sexualitätsgeschichte der 1950er bis 1970er Jahre. Die DGfS dient als Sonde, da sie innerhalb der westdeutschen Sexualwissenschaft von ihrer Gründung bis zum Beginn der 1970er eine Monopolstellung innehatte. Während sich an ihrem Beispiel einerseits ablesen lässt, wie sich während des Untersuchungszeitraums wissenschaftlich, juristisch oder kulturell verankerte Sexualnormen herausgebildet, gefestigt und erneuert haben, muss sie andererseits als einer der Faktoren betrachtet werden, die diese Prozesse stark beeinflussten. Obwohl die Fachgesellschaft verhältnismäßig klein war, konnten ihre Akteure auf ihrem Spezialgebiet eine erhebliche Wirkmächtigkeit entfalten. Dabei war ihr Kurs nicht von vornherein festgelegt, sondern bildete sich erst unter dem Einfluss politischer und sozialer Dynamiken heraus. Das Verhältnis der Sexualforscher zu ihrem Untersuchungsgegenstand veränderte sich in relativ kurzer Zeit vergleichsweise radikal. Einerseits, weil die Sexualwissenschaft in der jungen Bundesrepublik über keinen festen akademischen Rahmen verfügte und stark vom Gestaltungswillen individueller Akteure abhing. Andererseits, weil ihr Institutionalisierungsprozess mit einer Periode des massiven sozialen und politischen Umbruchs zusammenfiel. Die DGfS erscheint dabei bis Mitte der 1960er als konservative Institution, deren Vertreter sich mehrheitlich im Konsens mit den vorherrschenden Moralvorstellungen befanden. Zugleich beteiligten sich verschiedene DGfS-Akteure jedoch schon seit den frühen 1950ern an bestimmten reformpolitischen Initiativen und gaben abseits der öffentlichen Wahrnehmung liberalisierende Impulse. Gemeinsam mit anderen Faktoren haben Akteure aus der DGfS bewirkt, dass sich die Grenzen des Sagbaren verschoben und die Diskrepanz zwischen den moralischen beziehungsweise juristischen Normen sowie dem tatsächlich gelebten Sexualverhalten sichtbar wurde. Unter dem Eindruck des sexualmoralischen Einstellungswandels in der BRD begann sich auch die DGfS neu auszurichten. Im Zusammenspiel von Sexualwissenschaft und „Sexueller Revolution“ konstituierte sich eine neue Führungsgruppe, die seit spätestens 1970 den Kurs der Fachgesellschaft bestimmte. Der bereits Jahre zuvor eingeleitete Wandel der DGfS beschleunigte sich in dieser Phase erheblich. Dabei profitierten die Sexualforscher in den 1970ern zum einen von der Vorarbeit ihrer akademischen Vorgänger, zum anderen von den Fortschritten, die im Rahmen des Institutionalisierungsprozesses erreicht worden waren. Die sichere Ausgangsbasis erlaubte es ihnen, sich mit explizit artikulierten, weitreichenden reformpolitischen Forderungen öffentlich zu positionieren.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Sexualität als Gegenstand der Zeitgeschichtsforschung und der Sexualwissenschaft in der frühen Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Sexualforschung 2 (2015), S. 132-148
Moritz Liebeknecht
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„Wir ertrinken in der Sex-Welle“. Hans Giese und der öffentliche Sexualitätsdiskurs in den sechziger Jahren, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hrsg.), Zeitgeschichte in Hamburg 2016, Hamburg 2017, S. 52-67
Moritz Liebeknecht
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Sexualwissenschaft als Lebenswerk. Zur Biografie Hans Gieses (1920-1970), in: Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen u. Benedikt Wolf (Hrsg.), Jahrbuch Sexualitäten 2018, Göttingen 2018, S. 111-132
Moritz Liebeknecht
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Perspektiven der Sexualforschung. Gießen, Psychosozial Verlag, 2019
Peer Briken (Hrsg.)