Die Arbeit am Ich. Weiterbildung und "Persönlichkeitsoptimierung" in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Zusammenfassung der Projektergebnisse
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren westdeutsche Arbeitnehmer*innen multiplen Anpassungsimperativen ausgesetzt, die von internationalen Organisationen, Politikern, Wissenschaftler*innen, Unternehmen, Gewerkschaften, Kirchen und Bildungsdienstleistern gleichermaßen formuliert wurden. Sie alle teilten die Überzeugung, dass der Ausbau von Weiterbildung der richtige Weg sei, um eine Brücke zwischen einer als defizitär empfundenen Gegenwart in eine bessere gesellschaftliche Zukunft zu schlagen. Zunehmend gerieten dabei Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale der Beschäftigten in den Blick, deren Optimierung bald nachhaltiger erschien, als die Bildung rein fachlicher Qualifikationen. Die Untersuchung konnte herausarbeiten, dass solche Bildungsmaßnahmen zwischen den 1950er und 1980er Jahren stets auf der Grenze zwischen beruflicher und politischer Bildung verortet wurden, weil sie mit den sozialen Beziehungen im Betrieb immer auch die Position des Einzelnen in der Gesellschaft mitzudefinieren versuchten. Ihre Geschichte wurde als Produkt soziökonomischer Zukunftsvorstellungen, politischer und wissenschaftlicher Aushandlungsprozesse, von Deutungs- und Machtkämpfen zwischen den Tarifparteien und sich wandelnder Selbstverhältnisse rekonstruiert. Abgedeckt wird damit ein Spektrum von der Ebene internationaler Organisationen und der bundesdeutschen Politik, über die wissenschaftliche Bildungstheorie und -forschung, die Bildungsorganisation und -praxis durch Anbieter und Unternehmen bis hin zur individuellen Wahrnehmung der betroffenen Individuen. Dabei wurde die Entwicklung der Weiterbildung vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftlicher Grundsatzfragen untersucht, die mit den angebotenen Veranstaltungen korrespondierten. Während es in den 1950er Jahre um die Stabilisierung der sozialen Marktwirtschaft als neuer Gesellschaftsordnung ging und „Menschenführung“ dabei zum entscheidenden Thema wurde, wurde Weiterbildung in den 1960er Jahren unter bildungsökonomischen Auspizien als ein entscheidender Faktor des Wirtschaftswachstums interpretiert und mit einer Rationalisierung individueller Arbeitsprozesse zu erreichen versucht. Nach der ersten Nachkriegsrezession und den Studentenprotesten wurde die ökonomische Perspektive um gesellschaftspolitische und individuelle Zielsetzungen, wie Demokratisierung, Chancengleichheit und „Selbstentfaltung“ ergänzt, die sich in Angeboten von „Kreativität“ bis zur „Gruppendynamik“ niederschlugen. Die politischen Pläne eines Aus- und Umbaus der heterogenen Angebote zu einer „vierten Säule“ des deutschen Bildungssystems scheiterten jedoch an staatlichen Finanzierungsengpässen und den Widerständen der Privatwirtschaft. Ein überraschendes Ergebnis des Forschungsprojektes war, dass die vielfach konstatierten Anreizmechanismen, um Menschen zur „Arbeit am Ich“ zu bewegen, in institutioneller Hinsicht zumeist in Formen von Disziplinierung und Zwang zu Tage traten, weil sich die Effekte von Weiterbildung nicht validieren ließen, sich ihre Ausgaben aber rechnen sollten. In dem Maße, in dem Weiterbildung einem ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkül unterworfen wurde, mussten Arbeitnehmer*innen ihre Weiterbildungsfähigkeit und ihre Loyalität zum Arbeitgeber unter Beweis stellen – unabhängig von der Qualität der angebotenen Seminare, die immer mehr um Leistungsfähigkeit und Emotionen kreisten. Boten sich den einen hierdurch neue Karrierechancen, blieben gerade die vulnerablen Beschäftigtengruppen von dem damit verbundenen Sicherheitsversprechen ausgenommen. Für sie eröffnete sich ein „Markt der Möglichkeiten“, deren Wahrnehmung jedoch auch ein arbeitsbiographisches Risiko bedeuten konnte. Damit hat sich die Geschichte der Formierung historischer Subjekte durch Weiterbildung nicht so sehr als die Erfolgsgeschichte der linearen Formierung des „unternehmerischen Selbst“ offenbart, sondern vielmehr als eine Geschichte konkurrierender sozioökonomischer und -politischer Hoffnungen, die in den Versuchen ihrer praktischen Umsetzung häufig uneindeutige und unintendierte Folgen zeitigten. Zu lesen ist sie deshalb als eine großangelegte, aber letztlich gescheiterte Realisierung einer auch international forcierten Utopie, in der über den gezielten Zugriff auf das Verhalten des Individuums Optimierungslogiken in Wirtschaft und Gesellschaft eingeschrieben und verstetigt werden sollten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Ein Experimentierfeld für die Zukunft. Betriebliche Weiterbildung in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre, in: Franziska Rehlinghaus/Ulf Teichmann (Hg.), Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert (Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Band 108), Bonn: Dietz 2019, S. 225-252
Franziska Rehlinghaus
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Historische Zukunftsforschung, die Geschichte der Arbeit und die Potenziale ihrer Verbindung. Eine Einführung, in: dies. (Hg.), Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert (Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Band 108), Bonn: Dietz 2019, S. 7-32
Franziska Rehlinghaus mit Ulf Teichmann
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Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert (Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Band 108), Bonn: Dietz 2019
Franziska Rehlinghaus mit Ulf Teichmann (Hg.)
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Den Erfolg sicher machen. Zur Eliminierung von Kontingenz als Weiterbildungsziel, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71 (2020) H. 9/10, S. 555-572
Franziska Rehlinghaus
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Gegen Linke reden, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 18 (2021)
Franziska Rehlinghaus
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Soft Skills in an Age of Crises. Continuing Training as an Economic Coping Strategy in West German Companies, in: Sebastian Voigt (ed.), Since the boom. Continuity and Change in the Western Industrialized World after 1970, Toronto: University of Toronto Press 2020, S. 153-185
Franziska Rehlinghaus