Städtische soziale Proteste als Wegbereiter einer post-neoliberalen Dekommodifizierung der Wohnraumversorgung?
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Gegenwärtig treffen angesichts steigender Mieten und Wohnungspreise vielerorts genau jene Entwicklungen wieder vermehrt auf soziale Proteste, die in den letzten Jahrzehnten als Kernbestandteil der Neoliberalisierung der Wohnraumversorgung galten. Inwiefern solche Widerständigkeiten eine signifikante Abweichung von Prozessen der Vermarktlichung und Privatisierung anstoßen, ist vergleichend am Beispiel von Frankfurt am Main und Tel Aviv-Jaffa untersucht worden. Im Zentrum der Arbeit stand die Frage, mit welcher Wirkmächtigkeit es sozialen Bewegungen gelingt, eine postneoliberale Verschiebung regulatorischer Praktiken zu erzeugen und auf eine Dekommodifizierung der Wohnraumversorgung im Interesse von mittleren und niedrigen Einkommensschichten hinzuwirken. Einen Beitrag geleistet hat das Projekt damit zur Wohnungsforschung in Tradition der Kritik der politischen Ökonomie, zur jüngeren Debatte um den Begriff des Postneoliberalismus, zum Verhältnis von sozialer Bewegungsforschung und materialistischer Staatstheorie sowie zu methodologischen Herausforderungen einer aktivistischen Stadtforschung im Spannungsfeld von akademischer Wissensproduktion und politischen Interventionen. Fallstudie 1: (K)ein postneoliberaler Wandel in Sicht? Die J14-Sozialproteste in Israel und ihre Folgen Im Sommer 2011 erlebte die israelische Gesellschaft die größten Sozialproteste ihrer Geschichte. Was als spontanes Protestcamp auf dem Rothschild Boulevard in Tel Aviv begann, entwickelte sich innerhalb weniger Wochen zu einer Massenbewegung für soziale Gerechtigkeit. Mehrere Monate lang besetzten Aktivist/innen Straßen und Plätze, etablierten mehr als 60 Zeltstädte im ganzen Land und organisierten Großdemonstrationen, an denen sich auf dem Höhepunkt eine halbe Million Menschen beteiligten. Gerichtet waren die Proteste gegen die tiefgreifenden Neoliberalisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte, die zunehmende soziale Ungleichheit sowie insbesondere gegen die steigenden Wohnungspreise und Mieten. Inwiefern es in den Folgejahren gelungen ist, postneoliberale Verschiebungen im Bereich der Wohnraumversorgung voranzutreiben bzw. durchzusetzen, war Gegenstand der ersten Fallstudie. Im Ergebnis haben die J14-Proteste zwar eine innovative Wissensproduktion und auch zahlreiche Reformen angeregt, eine grundlegende Transformation der Wohnungsversorgung, die Wohnraum Marktmechanismen entzieht, ist jedoch sowohl auf nationaler als auch auf städtischer Ebene in Tel Aviv von staatlichen Akteuren blockiert worden. Fallstudie 2: Postneoliberale Verschiebungen von Wohnungspolitiken in Deutschland seit 2011? Ausgehend von dem jüngsten Zyklus wohnungspolitischer Proteste in Frankfurt am Main wurde in der zweiten Fallstudie rekonstruiert, inwiefern sich deren Forderungen in staatliche Wohnungspolitiken einschreiben konnten. Das Ergebnis fällt ambivalent aus. Zweifellos hat es die Mieterbewegung geschafft, dass Thema Wohnungsnot auf die politische Agenda zu setzen, wohnungspolitische Reformen zu forcieren und kleinere postneoliberale Experimente anzustoßen. Die realpolitische Umsetzung erfolgt aber nur sehr bedingt im Sinne der von den Initiativen selbst hervorgebrachten Imaginationen, da wohnungspolitische Aktivist/innen in ihren Auseinandersetzungen mit staatlichen Apparaten häufig an Einfluss verlieren. Eine Ausnahme bildet jedoch die städtische Ebene, wo eine lokale Gegenmacht ‚von unten‘ tatsächlich substanziellen Einfluss auf kommunale Wohnungspolitiken gewinnen konnte. Die Ergebnisse der beiden Fallstudien zeigen, dass auch unter den gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Potenziale zu identifizieren sind, Wohnraum Marktmechanismen zu entziehen und Renditeerwartungen einzuschränken. Die gegenwärtige Konstellation lässt sich als postneoliberal charakterisieren, da zwar hegemoniale Konsense neoliberalen Regierens bröckeln, sich politische Kräfteverhältnisse zu verschieben beginnen und soziale Bewegungen innovative Wissensbestände für eine Dekommodifizierung des Wohnens hervorbringen. Allerdings versperrt die strategische Selektivität der Staatsapparate, in die sich seit Jahrzehnten neoliberale Rationalitäten in materiell verdichteter Form eingeschrieben haben, bislang grundlegende Veränderungen in der Ausrichtung der Wohnungspolitik. Abgesehen von kleineren Zugeständnissen werden postneoliberale Begehren in Kontakt mit staatlichen Institutionen häufig entweder blockiert oder derart reformuliert, dass sie eher zu einer Modernisierung neoliberalen Regierens als zu einem Bruch mit selbigem beitragen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2015): Towards a ‘post-neoliberal’ mode of housing regulation? The Israeli Social Protest of summer 2011. In: International Journal for Urban and Regional Research 39 (6), S. 1137–1154
Schipper, Sebastian
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(2015): Urban Social Movements and the Struggle for Affordable Housing in the Globalizing City of Tel Aviv-Jaffa. In: Environment and Planning A 47 (3), S. 521–536
Schipper, Sebastian
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(2017): Social movements in an era of post-democracy: how the Israeli J14 tent protests of 2011 challenged neoliberal hegemony through the production of place. In: Social and Cultural Geography 18 (6), S. 808–830
Schipper, Sebastian
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(2018): Wie lässt sich Verdrängung verhindern? Die Rent-Gap-Theorie der Gentrifizierung und ihre Gültigkeitsbedingungen am Beispiel des Frankfurter Gallus. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 6 (1), S. 51–76
Schipper, Sebastian; Latocha, Tabea
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(2018): Wohnraum dem Markt entziehen? Wohnungspolitik und städtische soziale Bewegungen in Frankfurt und Tel Aviv. Wiesbaden: Springer VS
Schipper, Sebastian