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Literarische Figuren in frühen Texten des japanischen Autors Nagai Kafû (1879-1959): Figurenmodelle im literarischen und historischen Kontext

Fachliche Zuordnung Asienbezogene Wissenschaften
Förderung Förderung von 2016 bis 2020
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 283636549
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Forschungsprojekt widmete sich der Analyse der literarischen Figuren im Frühwerk des japanischen Autors Nagai Kafû (1879-1959). Zunächst wurde nach intensiver Lektüre festgehalten, dass für dieses vor allem die Kürze der Texte, welche die Gestaltung der´literarischen Figuren maßgeblich bestimmt, charakteristisch ist. So überwiegt in den frühen Erzählungen Kafûs die Tendenz zur Verwendung typisierter Figuren, die einem individualisiert erscheinenden Protagonisten gegenübergestellt werden. Dieser Befund konnte mit Rückgriff auf gängige Theorien zur Kurzgeschichte als ein der Gattung inhärentes Phänomen beschrieben werden. In einem zweiten Schritt wurde danach gefragt, was die häufige Verwendung typisierter Figuren bzw. die bewusste Kontrastierung derer über individualisierte Protagonisten genau bedeutet. Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage waren kognitionswissenschaftlich orientierte Ansätze zum Verständnis literarischer Figuren, welche diese als mentale Modelle beschreiben, die vom Rezipienten im Verlauf der Lektüre anhand von Textinformationen und Inferenzen gebildet werden. Demnach beruht das Verständnis typisierter Figuren vor allem auf der Wiedererkennung bestimmter sozialer Stereotype und literarischer Figurenkonzeptionen, die Teil der diskursiv geformten Wissensbestände des Rezipienten sind, wohingegen im Falle individualisiert erscheinender Figuren bewusst mit dem Vorwissen des Rezipienten gebrochen wird. Eine Vertiefung der Betrachtung der diskursiven Funktion literarischer Figuren fand anschließend über die Kenntnisnahme von Arbeiten zur Historischen Diskursanalyse, welche die Literatur als Gegendiskurs mit subversivem Potenzial verstanden wissen wollen, statt. Es wurde die These aufgestellt, dass es insbesondere die Figuren sind, über welche sich literarische Texte innerhalb aktueller gesellschaftlicher Diskurse positionieren. Übertragen auf den hiesigen Forschungsgegenstand bedeutete dies, dass angenommen wurde, dass das zu beobachtende kritische Potential der Texte Kafûs vor allem bei den literarischen Figuren zu suchen ist, welche stets mit zentralen sozialen Diskursen der Meiji-Zeit (1868–1912) verbunden sind und gleichzeitig eine aktive Rolle in deren Formation spielen. Fasst man die gewonnenen Ergebnisse hinsichtlich der Ausgestaltung der literarischen Figuren im Frühwerk Kafûs zusammen, so kann festgehalten werden, dass die Protagonisten in einer Vielzahl der Texte zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und den von der Gesellschaft an sie herangetragenen Erwartungen stehen. Auf diese Weise ergibt sich ein Spannungsfeld aus Vernunft (ri) und Gefühl (jō), das sich durch die Mehrheit der frühen Erzählungen Kafûs zieht und auf textueller Ebene auch durch die Opposition von Realität (genjitsu) und Traum (yume) artikuliert wird. Der Standpunkt der Vernunft kann hierbei häufig mit den hegemonialen Diskursen der Zeit in Verbindung gebracht werden, wohingegen der Standpunkt des Gefühls auf der Seite subversiver Gegendiskurse zu suchen ist, welche den Status quo in Frage stellen. Auf einer abstrakteren Ebene bedeutet dies, dass die Einbindung hegemonialer Diskurse in den literarischen Text bei Kafû häufig mit einer Tendenz zur typisierten Darstellung der Figuren einhergeht, während die Einbindung subversiver Gegendiskurse über individualisiert erscheinende Figuren erfolgt. Prägnante Diskurse der Meiji-Zeit, welche anhand der Figurendarstellung in den frühen Erzählungen Kafûs im Rahmen des Projektes untersucht wurden, waren unter anderem der Diskurs um Karrierismus und sozialen Aufstieg, der Diskurs um das Verhältnis von Liebe und Sexualität, der Diskurs um die gesellschaftliche Aufgabe von Kunst und Literatur, der Diskurs um das Geschlechterrollenverhältnis von Mann und Frau, der Diskurs um die an westlichen Vorbildern orientierte Modernisierung des Landes und der Diskurs um die richtige Erziehung von Kindern. Nicht ausschließlich, aber doch zu einem großen Teil, werden diese über die Einbindung bestimmter Figurentypen verhandelt, die je nach Funktion innerhalb des Diskursgeflechts vordergründig als individualisiert (Gegendiskurs) oder typisiert (hegemonialer Diskurs) wahrgenommen werden. Beispielhaft können hier der Künstler, die Prostituierte, der tyrannische Vater, die unterdrückte Mutter, der Flaneur und der Auslandsreisende genannt werden. Mit der Ausarbeitung derartiger Gesellschaftsdiskurse und deren Beziehung zur Darstellung literarischer Figuren hat das vorliegende Forschungsprojekt zum einen einen Beitrag zur Kafû-Forschung geleistet, der sich vor allem auch darin begründet, dass die einzelnen Erzählungen nicht, wie bisher häufig geschehen, als Singularitäten, sondern in ihrem komplexen Zusammenspiel betrachtet wurden, ohne sich dabei nur an der zeitlichen Reihenfolge der Entstehung der Texte zu orientieren. Die erstmalige Analyse bisher nicht in der Forschung rezipierter Erzählungen, die vor Kafûs Reisen nach Amerika und Europa entstanden sind, führte zudem zu einer Neubewertung bisheriger Forschungsarbeiten. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass das Motiv des Heimkehrers (kichōsha) bereits vor Kafûs Auslandsaufenthalten in seinem Werk präsent war und nicht, wie häufig behauptet, erst infolge der direkten Auseinandersetzung mit seinen persönlichen Erfahrungen im Ausland entstanden ist. Schließlich konnte über die Zusammenführung von Kurzgeschichtentheorie, literarischer Diskurstheorie und kognitionswissenschaftlich orientierten Ansätzen zum Verständnis literarischer Texte auch ein Beitrag zur allgemeinen Figurentheorie geleistet werden, indem der Blick gezielt auf die Bedingungen der diskursiven Funktion literarischer Figuren in Kurzgeschichten gerichtet wurde.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • „Literarische Figuren als Gegenstand narratologischer Textanalysen: Methoden und Modelle am Beispiel früher Erzählungen Nagai Kafūs (1879–1959)“, 6. Forum für literaturwissenschaftliche Japanforschung, 8.–9. Juni 2018, Universität Wien
    Thomas, Martin
  • „Zur Komplexität und Diskursivität literarischer Figurendarstellung in Kurzgeschichten: Das Frühwerk des japanischen Autors Nagai Kafū (1879–1959)“, Symposium „Wie erzählt die Welt?“, 15.–16. Juni 2018, Universität zu Köln
    Thomas, Martin
  • "Why Not Just Stay in Bed?’: Literary Characters Between Personal Fulfillment and Social Expectations in the Early Writings of Nagai Kafū“, Symposium „Crossing the Borders of Modernity“, 10.–11. Januar 2020, Universität zu Köln
    Thomas, Martin
  • Die Sandwüste [Sabaku]. Aus dem Japanischen übersetzt von Martin THOMAS und Stephan KÖHN. In: Hefte für ostasiatische Literatur 69. S. 102–115
    Nagai, Kafü; Übers.: Martin Thomas und Stephan Köhn
  • „New Images of Idealized Womanhood in the Early Work of Miyake Kaho“, Symposium „Crossing the Borders of Modernity“, 10.–11. Januar 2020, Universität zu Köln
    Köhn, Stephan
 
 

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