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Sezierungen des Gesellschaftlichen. Publizistische Skizzen und die Formierung ethnografisch-soziologischer Wissensordnungen (1830-1860)
Antragstellerin
Professorin Dr. Christiane Schwab
Fachliche Zuordnung
Ethnologie und Europäische Ethnologie
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Förderung
Förderung von 2016 bis 2021
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 287075175
Mit der Kommerzialisierung des Druckwesens entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine neuartige Form gesellschaftlicher Selbstbeobachtung. Insbesondere um die kulturelle Achse zwischen London und Paris wurden Beschreibungen von Typen, Routinen und Institutionen zu einem beliebten Medium zur Vermessung der sich ausdifferenzierenden Gesellschaften. Oftmals wurden diese (häufig illustrierten) Schriften, die zunächst in Magazinen und Zeitungen erschienen, in Sammelwerken veröffentlicht, wie Heads of the People; or, Portraits of the English (1838-1841), Les Français peints par eux-mêmes (1839-1842) oder Los valencianos pintados por si mismos (1859). Die Texte und ihre Illustrationen zeigen dokumentarische, ja mikro-analytische Absichten, und in der Erscheinungsform als Kompilation behandeln sie sozial-räumliche Figurationen in enzyklopädisch-holistischer Absicht und beinhalten Reflexionen zu Konzepten wie Stadt, Klasse oder Nation. Die Bedeutung dieser Gesellschaftsskizzen und ihrer Ikonographien für die sich konsolidierenden Sozial- und Geisteswissenschaften ist trotz klarer Bezüge zu statistischen, philanthropischen, moralistischen und soziologisch-ethnologischen Debatten bislang kaum bekannt. Das Projekt untersucht die Gesellschaftsskizzen und ihre Sammlungen als frühe ethnografisch-soziologische Wissensformate. Mithilfe diskursanalytischer und mikrohistorischer Perspektiven wird ein signifikantes Korpus aus Gesellschaftsskizzen und weiterer Formen proto-ethnografischen Wissens und Repräsentierens (statistische Beschreibungen, Beispiele der illustrierten Presse, philanthropische Texte etc.) im Hinblick auf innere Ordnungen und in Verbindung zu sozialen und epistemischen Bedingungen untersucht. Der geographische Fokus liegt auf dem westlichen Europa und wird durch Exkurse in das (post-)koloniale Lateinamerika sowie in deutschsprachige Regionen ergänzt. Zu den Untersuchungsschwerpunkten gehören (1) Strategien der Repräsentation (die Konstruktionsweisen sozialer Typen, der Einfluss naturwissenschaftlicher Paradigmen und visueller Anschauungsformen, die Herstellung ethnografischer Autorität etc.), (2) die Bedeutung epistemischer Verschiebungen für die Entwicklung der Gesellschaftsskizzen (etwa hin zu sensualistischen und historisierenden Perspektiven auf soziale Umwelten), (3) ihre Rückbindung an spezifische Wissensmilieus und ihre intermedialen Bezüge zu philanthropischen, künstlerischen, akademischen und staatlichen Projekten sowie (4) ihre Verbindungen zu Urbanisierungsprozessen und zu verschiedenen Formen des Nation-Building. Durch die Kombination intensiver Quellenanalysen mit Kontextuntersuchungen trägt das Forschungsprojekt zu einer transnationalen Wissens- und Wissenschaftsgeschichte bei. Es bricht mit disziplinären und geographischen Grenzziehungen, um die Gesellschaftsskizzen als bedeutungsvolle Produkte und Agenten eines sich formierenden sozialwissenschaftlichen Diskurses in Europa und darüber hinaus zu deuten.
DFG-Verfahren
Emmy Noether-Nachwuchsgruppen