Sezierungen des Gesellschaftlichen. Publizistische Skizzen und die Formierung ethnografisch-soziologischer Wissensordnungen (1830-1860)
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das DFG-Projekt untersuchte ein umfangreiches Korpus journalistisch-dokumentarischer Erzeugnisse, die mittels spezifischer Inszenierungsmöglichkeiten Wissen über Gesellschaft und Kultur organisierten und vermittelten, bevor wissenschaftliche Disziplinen wie Ethnologie, Volkskunde, Soziologie und Sozialpsychologie sich mit der empirischen Erforschung alltäglicher Lebensformen beschäftigten. Im Rahmen von vier Teilprojekten, die Beispiele aus England, Frankreich, Spanien sowie deutschsprachigen Regionen sowie Hispanoamerika berücksichtigten, untersuchte die Emmy Noether-Gruppe (1) die Entwicklung und Konsolidierung der „Gesellschaftsskizze“ auf einem expandierenden, städtisch geprägten Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt, (2) ihre narrativen, piktorialen und epistemischen Charakteristika im Zusammenhang unterschiedlicher epistemischer, politischer, presse- und sozialhistorischer sowie künstlerischer Konfigurationen, (3) die wissensbezogenen und transkulturellen Netzwerke ihrer Produktion und Distribution und (4) ihre Rolle in verschiedenen Prozessen und Formen des (auch postkolonialen) Nation Building. Die mikrohistorisch angelegten Studien konnten zeigen, dass die sozial-dokumentarischen Texte und Illustrationen ein formatives Genre zwischen Wissenschaft, Unterhaltung, Kunst und Politik bildeten, in dem die Kulturtechnik ethnografischen Repräsentierens, Deutens und Kommentierens auf eine ganz spezifische Weise eingeübt und verfeinert wurde: Im Mittelpunkt der Gesellschaftsskizze stand die visuell-verbale Dokumentation soziokultureller Erscheinungen des geographischen Nahbereichs, die durch historische, kulturvergleichende, psychologische oder politische Überlegungen essayistisch umkreist wurde. Die Skizzen bündelten folglich eine Vielfalt soziographischer Wissens- und Repräsentationsformen. Als Format einer Kulturforschung „zu Hause“ begünstigte die Gesellschaftsskizze die detaillierte wie multiperspektivische Dokumentation und Deutung sozialer Erscheinungen und Strukturen und trug durch ihre kommerzielle Orientierung und ihre pragmatische Reduktion der sozialen Welt auf wiedererkennbare Typen und Situationen auch zur Popularisierung einer kulturellen Selbstbeobachtung (primär im bürgerlich-urbanen Milieu) bei. Ausgehend vom hybriden und transnationalen Genre der Gesellschaftsskizze wurden durch das Projekt eine Vielzahl innovativer Perspektiven auf die Entwicklung soziologisch-ethnologischethnografischer Interessen angeregt, die wissenschafts-, kultur- und sozialgeschichtliche sowie literaturwissenschaftliche Ansätze und Methoden kombinieren. So wurden die Relevanz naturwissenschaftlicher Begrifflichkeiten für visuellen Wissens im 19. Jahrhundert für die Konsolidierung kultur- und sozialwissenschaftlichen Denkens bestimmt, das frühe ethnografische Selbst-Beobachten wurde als „öffentlich-demokratische“ Mode in einer sich ausdifferenzierenden urbanen Welt gedacht und es wurde der Adaptation der Gesellschaftsskizze als Medium nationaler Ikonographien in (post-)kolonialen Weltregionen nachgegangen. Die Exploration der Gesellschaftsskizze in ihrem diskursiven und sozialen Gefüge führte zu geweiteten Perspektiven auf Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, die mit genrebezogenen und sprachlich-nationalen wie disziplinären Forschungstraditionen brechen und Impulse für eine weitere Revision einer multimedialen und transkulturellen Sozial- und Kulturforschung in Geschichte und Gegenwart versprechen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2020) Modelling of a thermoelectric self-cooling system based on thermal resistance networks for linear direct drives in machine tools. Journal of Machine Engineering 20 (1) 43–57
Christiane Schwab
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(2018): Social Observation in Early Commercial Print Media. Towards a Genealogy of the Social Sketch (ca. 1820-1860), in: History and Anthropology, 29/2,S. 204–232
Christiane Schwab
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(2019): Beobachtungskunst zwischen Sozialforschung und Kommerz: Paris, ou le Livre des Cent-et-un (1831-1843), in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 115/2 , S. 7–24
Christiane Schwab
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(2019): Cuadros de Costumbres and the Shaping of Stereotypes and National Identity in Contemporary Spain and Latin America, in: Gant, Mark (Hg.), Revisiting Centres and Peripheries in Iberian Studies. Culture, History and Socioeconomic Change, Newcastle upon Tyne, S. 8-18
Florian Grafl
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(2019): The Transforming City in Nineteenth-Century Literary Journalism: Ramón de Mesonero Romanos' “Madrid Scenes” and Charles Dickens’ “Street Sketches”, in: Urban History, 46/9, S. 225–245
Christiane Schwab
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(2020): Voices of Observation and Styles of Representation in Nineteenth-Century Sociographic Journalism, in: History and Anthropology
Christiane Schwab
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(2021) Die postkoloniale Welt im Journal – Gesellschaftsbeschreibungen in mexikanischen Literaturzeitschriften zur Zeit der Staatenbildung (1830–1860) . Hamburger Journal für Kulturanthropologie (HJK) (13) 460–464
Florian Grafl
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(2021) Gavarni – Geertz – Goffman. Wie illustrierte Journale ›Welt.Wissen.Gestalte(te)n‹. Hamburger Journal für Kulturanthropologie (HJK) (13) 454–459
Adriana Markantonatos
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(2021) Gesellschaft schreiben, Gesellschaft wissen. Journalistische Genrebilder im Morgenblatt für gebildete Stände/Leser (1837–1847). Hamburger Journal für Kulturanthropologie (HJK) (13) 447–453
Alexandra Rabensteiner