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Die Personalisierung der Depression. Voraussetzungen, Dynamiken und Implikationen der psychiatrischen Biomarker-Forschung

Fachliche Zuordnung Soziologische Theorie
Förderung Förderung von 2016 bis 2020
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 299429261
 
Erstellungsjahr 2020

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Seit Anfang der 2000er Jahre hat sich unter dem Begriff der „Personalisierten Psychiatrie“ eine Vision etabliert, die mit dem Versprechen verbunden ist, psychiatrische Diagnosen und Interventionen auf die individuellen Besonderheiten der Patient*innen abzustimmen. Als wesentliche Grundlage der anvisierten Personalisierung sollen Biomarker dienen, d.h. biologische Parameter, die eine treffsichere Diagnostik und präzisere Therapieentscheidungen ermöglichen sollen. Das sozialwissenschaftliche Forschungsprojekt ist den soziotechnischen Voraussetzungen, Dynamiken und Implikationen dieser Vision sowie der psychiatrischen Biomarker-Forschung am Beispiel der Depression nachgegangen. Entgegen dem Eindruck einer fortschreitenden Realisierung der skizzierten Versprechen, den etwa die Bekanntmachung zweier ‚Bluttests der Depression“ kurz vor Beginn unseres Projekts hat erwecken können, ist im Laufe unserer Forschung eine Geschichte der ausbleibenden Erfolge und der wissenschaftlichen Rückschläge erkennbar geworden. Bislang ist kein Biomarker verfügbar, der für eine der großen psychischen Erkrankungen spezifisch wäre und klinisch implementiert werden könnte. Auch die genannten Bluttests sind im Laufe unserer Forschung dementsprechend wieder vom Markt verschwunden. Dieses fortwährende Scheitern bei der Suche nach Biomarkern der Depression resultierte schließlich in einer Re-Problematisierung dieser diagnostischen Kategorie und einer „infrastrukturellen Inversion“ (Bowker and Star 2000). Dass bislang kein diagnostischer Biomarker der Depression identifiziert werden konnte, ist demnach darauf zurückzuführen, dass diese in gegenwärtigen Wissensinfrastrukturen (DSM, ICD) definierte Erkrankung („Major Depression“ „Depressive Episode“) ‚nicht existiert‘. Diese diagnostische Kategorie gleicht demnach einer „Black Box“, die die (pathophysiologische bzw. ätiologisch-pathogenetische) Heterogenität der darin vermischten Erkrankungen verdeckt. Wissenschaftliche Untersuchungen, die diese diagnostischen Kategorien zum Ausgangspunkt ihrer Suche nach Biomarkern gemacht haben, mussten demnach zwangsläufig scheitern. Vor dem Hintergrund dieser spezifischen Re-Problematisierung konnten wir nicht nur epistemische Strategien herausarbeiten, mittels derer die Psy-Wissenschaften derzeit versuchen, auf die Heterogenität der Depression zu antworten und diese „Black Box“ in seine ‚wahren‘ Bestandteile („Biotypen“) zu zerlegen, sondern auch von welchen Imaginationen diese Wissenspraktiken getragen sind. Im Hinblick auf die Vision der personalisierten Psychiatrie konnten wir darüber hinaus zeigen, wie deren Plausibilität und Legitimität im psychiatrischen Diskurs trotz der skizzierten Misserfolge gesichert wird. Dabei wurde u.a. eine strategische Funktion pharmakogenetischer Tests deutlich, die gerade nicht bei der Diagnostik, sondern der Therapiesteuerung zum Einsatz kommen sollen. Obwohl diese Tests, die etwa eine Stratifikation der Patient*innen dahingehend erlauben (sollen), wie schnell sie ein Medikament metabolisieren, auf biologischen Zusammenhängen basieren, die teils schon seit vielen Jahrzehnten bekannt sind, werden sie fortwährend als ‚erster Schritt‘ auf dem Weg zu einer umfassenden Personalisierung gerahmt. Viele Akteure der klinischen Routineversorgung (z.B. Allgemeinmediziner*innen), die im psychiatrischen Diskurs immer wieder als potenzielle Nutzer*innen dieser Tests angerufen werden, begegnen diesen jedoch mit wenig Interesse, Skepsis oder sogar Widerstand. In Kontrast zur der von einigen Patient*innen artikulierten Hoffnung, dass solche Tests in Zukunft zu mehr Transparenz und Partizipation in der Behandelnden-Patient*innen-Interaktion beitragen könnten, haben wir u. a. die Risiken einer zunehmenden Zentralisierung und einer Fixierung biomedizinischen Expert*innentums im Zuge solcher technosomatischer Innovationen herausgearbeitet.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2018). Die Personalisierung der Depression. GID Online
    Rüppel, Jonas, Laura Schnieder und Thomas Lemke
  • (2018). Die Personalisierung der Depression. Entwicklungslinien der psychiatrischen Biomarker-Forschung. Bioskop, Nr. 83, 14-15
    Rüppel, Jonas, Laura Schnieder und Thomas Lemke
  • (2019). "Now Is a Time for Optimism": The Politics of Personalized Medicine in Mental Health Research. Science, Technology and Human Values 44: 581-611
    Rüppel Jonas
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1177/0162243919845049)
  • (2019). Von psychischen Störungen zu daten-getriebenen Biotypen? Rationalitäten und Praktiken der Humandifferenzierung in der psychiatrisch-psychologischen Wissensproduktion. In: Burzan, N. (Hrsg.), Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018
    Rüppel, Jonas
 
 

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