Primäre und sekundäre Herkunftseffekte an unterschiedlichen Gelenkstellen des Bildungssystems über den gesamten Verlauf der Sekundarstufe
Allgemeines und fachbezogenes Lehren und Lernen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Projekt MILES-HuGS konnten tiefere Einblicke in das bildungssoziologische Forschungsfeld primärer und sekundärer Effekte der sozialen Herkunft gemäß der Theorie Raymond Boudons für den deutschen Schulkontext erlangt werden. Das Konzept zur Erforschung von Ungleichheiten an Bildungsübergängen wurde sowohl theoretisch erweitert, indem es neben Übergangsentscheidungen auch auf erreichte Schulabschlüsse angewendet wurde, als auch empirisch über den gesamten Verlauf der Sekundarstufe vergleichend analysiert. Unter diesem Fokus erfolgten erstmals übergreifende Dekompositionsanalysen des sozialen Herkunftseffekts in primäre (Leistungsdisparitäten) und sekundäre Effekte (leistungsunabhängige Bildungsentscheidungen) anhand der jüngst etablierten KHB-Methode für die zentralen Gelenkstellen des deutschen Sekundarschulsystems. Die Befunde knüpfen unmittelbar an den Forschungsstand der nationalen und internationalen Bildungsforschung an. Bisherige Befunde wurden validiert und erweitert. Auf Basis der Schulleistungsstudien LAU (von 1996 bis 2005) und KESS (von 2003 bis 2012) konnten, exemplarisch im Hamburger Schulsystem, komplette Schülerkohorten über den gesamten Verlauf der Sekundarstufe im Quer- und Längsschnitt und zwischen den Kohorten komparativ untersucht werden. In Übereinstimmung mit dem bisherigen Forschungsstand – aber erstmals mit Daten eines vollständigen Jahrgangs ermittelt – verringerte sich der absolute soziale Herkunftseffekt an den Bildungsübergängen über den Bildungsverlauf vom Ende der Grundschule bis zum Übergang in die Hochschule. Dies gilt für die Schülerpopulation, die zum jeweiligen Zeitpunkt vor einer Bildungsentscheidung stand. Wird hingegen durchgehend die (unselektierte) Gesamtpopulation vom Ende der Grundschulzeit zugrunde gelegt, zeigte sich ein stetiger Rückgang sozialer Ungleichheiten statistisch abgesichert nur bis zum Übergang in die gymnasiale Oberstufe. Auch beim Vergleich von Gymnasialübergang und späterem Abiturerwerb in längsschnittlicher Betrachtung verringerte sich der absolute Herkunftseffekt. Die Dekomposition beider Effektanteile ergab relative Gewichte primärer und sekundärer Effekte bis zum Übergang in die gymnasiale Oberstufe, die sich in etwa die Waage hielten. Hierbei wurde ersichtlich: Werden primäre Effekte über objektive Testleistungen anstelle von Schulnoten operationalisiert, wird eine Unterschätzung sekundärer Effekte vermieden. Beim Abiturerwerb war das relative sekundäre Gewicht gegenüber dem Gymnasialübergang in längsschnittlicher Betrachtung nur geringfügig größer, da früh bestehende soziale Leistungsdisparitäten zum Ende der Grundschule – als langfristiger primärer Effekt – bedeutsame Anteile erklärten. Sekundäre Effekte erhielten erst am Übergang in ein Hochschulstudium, gemessen an der Studienintention, ein substanzielles Übergewicht – sowohl in der Gesamtpopulation, was erstmals analysiert wurde, als auch (deutlich stärker ausgeprägt) im jeweiligen Abiturjahrgang. Der Vergleich von LAU und KESS zeigte, dass im Zuge der Expansion der Beteiligungsquoten an gymnasialen Bildungsgängen der Anteil sekundärer Effekte am Gymnasialübergang deutlich abnahm, während er am Übergang in tertiäre Bildungsgänge leicht anstieg (beides bei vergleichbaren absoluten Effekten).
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2020). Primäre und sekundäre Herkunftseffekte über den Verlauf der Sekundarstufe: Eine Dekomposition an drei Bildungsübergängen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 23(6)
Scharf, J., Becker, M., Stallasch, S. E., Neumann, M., & Maaz, K.