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Die Wahl von Latein und Altgriechisch als schulische Fremdsprachen: Eine Distinktionsstrategie der oberen sozialen Klassen?

Fachliche Zuordnung Empirische Sozialforschung
Förderung Förderung von 2016 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 321602695
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Die zentrale Forschungsfrage des Projekts, ob und in welchem Maße die Wahl von Latein eine Distinktionsstrategie der oberen sozialen Klassen darstellt, haben wir in mehreren Schritten versucht zu beantworten. Erstens haben wir die Wahl von Latein historisch verortet und beschrieben, dass die soziale Selektivität des Besuchs humanistischer Gymnasien in einer historischen Kontinuität steht, da der Kenntnis von Latein immer schon ein besonderer symbolischer Wert als Zeichen hoher Allgemeinbildung zukam. Zweitens können wir auf der Basis der von uns durchgeführten Elternbefragungen zeigen, dass die historisch entstandenen und institutionalisierten Deutungsmuster von Lateinkenntnissen auch heute noch fortbestehen: Personen mit Lateinkenntnissen werden nicht nur größere Fähigkeiten zugeschrieben (schneller und besser andere Fremdsprachen zu lernen bzw. logisch denken zu können), ihnen wird auch eine hohe gesellschaftliche Position und eine große Allgemeinbildung attribuiert. Auf der Grundlage von qualitativen Interviews konnten wir drittens drei unterschiedliche Typen bestimmen, die sich in ihren Zuschreibungen zu Latein, den Motiven für die Fremdsprachenwahl und hinsichtlich ihrer sozialen Grenzziehungen voneinander unterscheiden. Diese tiefergehende qualitative Betrachtung macht vor allem eine Erkenntnis deutlich, die sich auch in den quantitativen Ergebnissen findet: die Binnendifferenzierung akademischer Elternhäuser danach, ob auch die Großelterngeneration über akademische Bildung verfügt oder nicht. Während die Wahl von Latein bei den neu-akademischen Familien ausschließlich durch die soziale Selektivität des Schulumfelds motiviert ist, kommen bei historisch-akademischen Familien die Erwartung an positive Transfereffekte und das Ziel kultureller Distinktion als substanzielle Motivlagen hinzu. Motiviert durch diesen Befund haben wir viertens untersucht, ob sich die Bedeutung der großelterlichen Bildung bei anderen Phänomenen kulturell distinktiven Verhaltens finden lassen. Anhand unserer Befragungsdaten können wir zeigen, dass dies für die Praxis des klassischen Musizierens der Fall ist. Über die skizzierten inhaltlichen Befunde liefert das Projekt auch aber Einsichten, die von allgemeinerem Interesse sein könnten. Auf methodischer Ebene zeigt unser Vorgehen, wie historische, qualitative und quantitative Daten zu einer gemeinsamen und umfassenderen Betrachtung eines Phänomens kombiniert werden können. Der Befund robuster eigenständiger Effekt großelterlicher Bildung deutet klar daraufhin, dass die Erfassung der Großelterngeneration für die Untersuchung intergenerationaler Reproduktion und sozialer Mobilität von großer inhaltlicher Bedeutung ist. Zudem wenden wir ein methodisches Vorgehen („Directed Acyclic Graphs“ (DAGs) an, mit dem es möglich ist, verschiedene Mechanismen analytisch präzise auf deren Erklärungskraft zu überprüfen. Alle erhobenen Daten wurden von uns umfassend dokumentiert und für Re-Analysen oder weiterführende Untersuchungen publiziert. Vor allem unser Aufsatz in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie hat eine breite öffentliche Reaktion ausgelöst (u.a. FAZ, Welt, Zeit, Spiegel Online, Deutschlandfunk). Wir haben uns an dieser Debatte mit Medienbeiträgen beteiligt. Kohler, Ulrich & Tim Sawert: Die tote Sprache und ihre lebendige Wirkung. Deutschlandfunk: Aus Kultur und Sozialwissenschaften. 12.09.2019. Gerhards, Jürgen, Tim Sawert, Tim & Ulrich Kohler: Mythen um Latein als Schulfach. Falsche Versprechen einer alten Sprache. Der Tagesspiegel 04.09.2019. Gerhards, Jürgen: „Wer in der Schule Latein gelernt hat, gilt als höher gebildet“. SPIEGEL Online, 02.09.2019

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2018): Das schulische Fremdsprachenprofil als soziale Segregationslinie - Historische Entstehung und gegenwärtige Relevanz der schulischen Fremdsprachenwahl als horizontal differenzierende Bildungsentscheidung. Berliner Journal für Soziologie 28(4): 398-425
    Sawert, Tim
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s11609-019-00381-7)
  • (2019): Des Kaisers alte Kleider: Fiktion und Wirklichkeit des Nutzens von Lateinkenntnissen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 71(2): 309-326
    Gerhards, Jürgen, Tim Sawert & Ulrich Kohler
    (Siehe online unter https://psycnet.apa.org/doi/10.1007/s11577-019-00624-8)
  • (2019): Do Grandparents Transmit a Highbrow Lifestyle to their Grandchildren? Testing Bourdieu's Theory of Distinction. Zeitschrift für Soziologie 48(5-6): 366-377
    Sawert, Tim & Jürgen Gerhards
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/zfsoz-2019-0026)
  • (2021): Educational Expansion, Social Class, and Choosing Latin as a Strategy of Distinction. Zeitschrift für Soziologie 50, Heft 5-6
    Gerhards, Jürgen; Ulrich Kohler & Tim Sawert
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/zfsoz-2021-0021)
  • (2021): The Reproduction of Educational Elites through Natural Cultivation. A Qualitative Analysis of Educational Child-rearing Practices as Strategies of Cultural Distinction. Soziale Welt 72(1): 55-83
    Sawert, Tim
    (Siehe online unter https://doi.org/10.5771/0038-6073-2021-1-55)
 
 

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