Patienten im 'Großbetrieb der Barmherzigkeit' . Die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1924 bis 1949
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Es wurde in einem kombinierten Zugriff quantitativer Erfassung von Patientenakten und der qualitativen Auswertung von Sach- wie Einzelpatientenakten der Alltag in der Abteilungen für Menschen mit psychischen Erkrankungen und Epilepsie in der größten deutschen Privatanstalt, den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, im Zeitraum 1924 bis 1949 erforscht und in einen vergleichenden Kontext mit der Provinzialheilanstalt Gütersloh gebracht. Hierzu wurden in einer Stichprobe insgesamt 2.600 Patientenakten in einer Datenbank erfasst und ausgewertet. Die Rolle der konfessionellen Privatanstalt als psychiatrische Versorgungsinstitution für Westfalen und darüber hinaus wurde dabei genauso deutlich wie auch die Sonderrolle, die Bethel insbesondere für sogenannte Privatkranke spielte. Die Fürsorge für Privatkranke und die Verteilung der Klientel auf verschiedene zahlende Landesfürsorgeverbände ermöglichte der Einrichtung eine gewisse Unabhängigkeit, die sich insbesondere in der Krisenzeit seit 1931 und in der mit Entkonfessionalisierung und Krankenmord drohenden NS-Zeit auswirkte. Man war nicht erpressbar und agierte selbstbewußt. Die Förderung der Eugenik und die Umsetzung der Zwangssterilisation in der eigenen Einrichtung ließ sich detailliert nachweisen. Die Ablehung der „Euthanasie" war eindeutig, auch wenn die Ärzte Villinger und Boeckh nach ihrem Ausscheiden aus Bethel auf die Seite der Euthanasiebefürworter wechselten und Villinger als Mitglied der Ärztekommission 1941 auch praktisch an der Selektion der Betheler Patienten mitwirkte. Der Widerstand gegen und die Mitwirkung Bethels im Rahmen der NS-"Euthanasie" konnte in verschiedenen Details aus Sachakten und durch Einzelfallakten ergänzt werden. Für die zweite Kriegshälfte und die ersten Nachkriegsjahre konnte eine erhöhte Sterblichkeit in der Anstalt Bethel nachgewiesen werden, die auf der allgemeinen Marginalisierung von institutionalisierten Menschen mit Behinderungen oder in der Psychiatrie beruhte, bei denen Versorgungs- und Ernährungsmängel sich auswirkten. Die Versorgung von Flüchtlingen (einschließlich der psychiatrischen Begutachtung von abtreibungswilligen Frauen nach Vergewaltigungen) und die zunehmende Verwissenschaftlichung der Behandlung von Epileptischen und psychisch Kranken bestimmten die ersten sehr notvollen Nachkriegsjahre. Die Bezugnahme auf die eigene Gegnerschaft zur NS-"Euthanasie" diente auch dazu, eigene Verstrickungen in Kooperationen mit dem NS-Staat gering zu gewichten und eine paternalistische Verschwiegenheit über die Geschehnisse bis in die 1980er-Jahre zu bewahren. Ein überraschendes inhaltliches Ergebnis des Projektes stellte die frühe und starke Wissenschaftsorientierung in der Anstalt Bethel dar. Zudem konnten noch sehr viele bislang nicht von der bisherigen Forschung ausgewertete Sachakten zur ärztlichen Versorgung, zum Verlauf der NS-Euthanasie und der historiographischen Nachgeschichte erschlossen werden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Paternalistische Verschwiegenheit. Bethel, die Zwangssterilisation und die NS-‚Euthanasie‘, in: Lippische Mitteilungen 89 (2020), S. 69–88
Uwe Kaminsky
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Unter dem Radar - Herbert Becker, Arzt und "Euthanasietäter", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 68 (2020), S. 597-617
Uwe Kaminsky; Fruzsina Müller
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Psychiatrische Begutachtungen – Die Verfahren bei einem Schwangerschaftsabbruch nach einer Vergewaltigung 1945 bis 1947, in: Unfruchtbare Debatten? 150 Jahre gesellschaftspolitische Kämpfe um den Schwangerschaftsabbruch, Ariadne. Forum für Frauenund Geschlechtergeschichte 77 (2021), S. 26-45
Wagner, Jelena
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Sterilisation und NS-„Euthanasie". "Euthanasie" und Holocaust (2021, 11, 5), 111-136. American Geophysical Union (AGU).
Kaminsky, Uwe
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Der Chirurg der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Richard Wilmanns (1880-1958) - medizinhistorische Erkenntnisse und deren veränderte Wahrnehmung, in: Rauh, Philipp u. a. (Hrsg.): Medizintäter. Ärzte und Ärztinnen im Spiegel der NS-Täterforschung, Perspektiven der Medizingeschichte 1, Köln Wien: Böhlau Verlag 2022, S. 203–227
Hulverscheidt, Marion und Uwe Kaminsky
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Zwangserziehung und ‚Psychopathen‘. Zur Grenze zwischen Pädagogik und Medizin am Beispiel der Anstalt Bethel, in: Oliver Gaida, Marie-Theres Marx, Julia Reus, Anna Schiff, Jan Waitzmann (Hg.), Zwang zur Erziehung? Deviante Jugendliche als institutionalisierte Aufgabe im 20. Jahrhundert, Münster 2022, S. 101-124
Uwe Kaminsky
