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Vom "Tante-Emma-Laden" zum "Supermarkt". Transatlantischer Wissenstransfer und die Einführung der Selbstbedienung im deutschen Einzelhandel (1948-1970)

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2006 bis 2011
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 35737086
 
Erstellungsjahr 2012

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Die Eröffnung des ersten Selbstbedienungsladens der Bundesrepublik Deutschland leitete im Jahr 1949 einen Innovationsprozess im Lebensmitteleinzelhandel ein, der das alltägliche Einkaufen und Verkaufen grundlegend veränderte. Im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre versuchten die Einzelhandelsunternehmer den neuen Anforderungen der Massenkonsumgesellschaft dadurch gerecht zu werden, dass sie zunächst die Selbstbedienung, wenig später dann auch Supermärkte und Discounter einführten. Die Etablierung der Selbstbedienung in den Lebensmittelgeschäften der 1950er Jahre stellte im Rahmen dieses Prozesses eine Schlüsselentwicklung dar, die den Weg für den Massenabsatz von Waren bahnte. In diesem Zusammenhang wird aber auch deutlich, dass sie erst der Anfang einer Entwicklung zu einem äußerst komplexen Massenkonsum- und Massenabsatzsystems war, das sich in der Bundesrepublik Deutschland bis Anfang der 1970er Jahre etablierte. Die Neuorganisation des Kaufens und Verkaufens nach dem Prinzip der Selbstbedienung gehörte neben technischen Entwicklungen in der Produktion und im Absatz von Konsumgütern, neuen Managementideen und sich wandelnden Unternehmensstrukturen zu den fundamentalen Umbruchprozessen in der Handels- und Konsumlandschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wegweisend für die Etablierung der Selbstbedienung in Westdeutschland waren die Entwicklungen des Einzelhandels in den USA sowie in anderen westeuropäischen Ländern. Transnationale Transferbeziehungen spielten sich in einer community of practice ab, in der eine Vielzahl von Politikern, Wirtschaftsvertretern, Wissenschaftlern und Einzelhandelspraktikern den Innovationsprozess im Einzelhandel gestalteten. Dabei kann allerdings nicht generell von einer „Amerikanisierung“ des Einzelhandels gesprochen werden. Zwar fand in der Anfangsphase, v. a. in den 1950er Jahren, eine starke Orientierung am US-amerikanischen Modell des self-service statt. Allerdings verlor das amerikanische Vorbild seine Leitfunktion in dem Maße, in dem die Massenkonsumgesellschaft seit den späten 1950er Jahren für die Bundesdeutschen reale Formen annahm. Zum einen kam es zu eigenständigen Entwicklungen, die z.B. zum Lebensmittel-Discounter oder zum Verbrauchermarkt führten. Zum anderen gewann der Austausch mit den europäischen Nachbarn an Bedeutung, bei denen sich trotz deutlicher nationaler Eigenheiten ähnliche konsumgesellschaftliche Entwicklungen abzeichneten. So nahm die Reisetätigkeit bundesdeutscher Einzelhandelsexperten in die USA im Laufe der Zeit ab, während die Vernetzung mit europäischen Organisationen und Unternehmen des Einzelhandels – darunter v. a. in Ländern wie der Schweiz und Schweden – immer wichtiger wurde. In diesem Sinne kann der Innovationsprozess im Einzelhandel als Teil einer „Westernisierung“ der Verkaufslandschaften charakterisiert werden. Die Studie zeigt aber auch zahlreiche praktische Hindernisse und soziokulturelle Vorbehalte, die mit der Umstellung von Bedienung auf Selbstbedienung verbunden waren. Da die neue Verkaufsform die Rollen von Käufern und Verkäufern, die Ladengestaltung und die Warenpräsentation fundamental veränderte, gab es in der Nachkriegszeit unter Einzelhändlern und Kunden durchaus skeptische bis ablehnende Stimmen gegenüber dem aufkommenden Selbstbedienungsprinzip. Unter den selbständigen Einzelhändlern sah man die zunehmende Anonymität des Kaufens mit Sorge und hatte Angst vor dem Verlust der Kundenbindung. Ähnliche Bedenken hatten die Konsumgenossenschaften, die ihre Unternehmensphilosophie des sparenden und bewussten Konsums durch den Massenabsatz in Frage gestellt sahen. Hartnäckig hielt sich unter den Einzelhändlern die letztlich unbegründete Angst vor einer sinkenden Käufermoral, die sich angeblich in einer Zunahme von Ladendiebstählen äußern würde. Aber auch die Kunden mussten sich in der neuen Art des Einkaufens erst allmählich zurechtfinden. Allerdings schafften sie den Umgang mit der neuen Warenfülle und der freien Wahl relativ problemlos. Die im Rahmen des Projektes entstandene Monographie der Bearbeiterin Lydia Langer wurde 2011 mit dem Erhardt-Imelmann-Preis ausgezeichnet, der am Historischen Institut der Universität zu Köln vergeben wird.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Transformations of Retailing in Europe after 1945, Ashgate publisher, Farnham 2012, ISBN: 978-1-4094-2445-1, print format, EPUB, EPDF.
    Jessen, Ralph / Langer, Lydia (Ed.)
  • Revolution im Einzelhandel. Die Einführung der Selbstbedienung in Lebensmittelgeschäften der Bundesrepublik Deutschland (1949-1973), Böhlau Verlag, Köln 2013, ISBN 978-3-412-21113-4
    Langer, Lydia
 
 

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