Die mythographische Predigt im spätmittelalterlichen England: Klassizismus, Diskurs und kleriklale Identität, 1330-1450
Europäische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Rahmen des Projektes wurde die Rezeption antiker Mythologie im theologisch-homiletischen Kontext in England zwischen 1330 und 1450 rekonstruiert. Dabei wurde der Zusammenhang mit dem scholastischen Wissensdiskurs und einer literarischen Praxis, in der ein bestimmtes, elitär-klerikales Bildungsideal regelrecht inszeniert wurde, herausgearbeit. Vor diesem Hintergrund wurde die Rolle der mythographischen Predigt deutlich: mit ihrer Hilfe konnte das scholastische Establishment als Vermittler eines nur durch langjährige Studien zu erwerbenden Expertenwissens auftreten. Der Rekurs auf den Mythos diente dabei als Verweis auf die Einheit von antikem und christlichem Wissen. Im Laufe dieser Untersuchung wurde eine Kontroverse sichtbar, in der Autoren wie Bradwardine, Ridevall und Holcot, Wyclif, Brinton und Walsingham teils explizit aufeinander Bezug nahmen, sich inspirierten und kritisierten (gelegentlich sogar beides zugleich); sogar in Chaucers Canterbury Tales hat diese Kontroverse Spuren hinterlassen. Ihr Fokus verschob sich allerdings im Laufe des 14. Jahrhunderts: was als Ringen um ein fragil gewordenes Bildungsideal begann, wurde zunehmend zu einem kirchenpolitisch motivierten Kulturkampf, in dem sich beide Seiten – die Vertreter der Orthodoxie ebenso wie die Reformer um Wyclif – sprachlicher Mittel zur Abgrenzung bedienten: dem Klassizismus konservativer Kirchenmänner stand die biblische Sprache der lollardischen Predigt gegenüber. Auch die Interpretationspraxis durchlief einen Wandel. Wurden schon vor der Pest hermeneutische Verfahren wie die pictura-Technik immer weiter verfeinert, reagierten die Mythographen gegen Ende des 14. Jahrhunderts zunehmend auf die Einwände, mit denen sie sich konfrontiert sahen: Walsingham etwa wollte sein traditionelles Bildungsideal gegen die Lollarden verteidigen, kam aber den Bedenken seiner eigenen Ordensbrüder entgegen, die sich an einer unklar gewordenen Grenze zwischen heidnischen und christlichen Autoritäten entzündeten: seine historisierende Ovid-Lektüre behandelt die Metamorphosen als dezidiert heidnischen Texte, dem man jedoch historische und philosophische Erkenntnisse abzugewinnen vermochte. Wie einige nach 1400 entstandene Predigten zeigen, blieb dieser historisierte Ovid pastoral nutzbar. Der neue Zugang zum Mythos bereitete auch der Humanismus-Rezeption den Boden: Walsinghams geistiger Nachfolger Wheathampstead zu den ersten Lesern von Boccaccios Genealogia deorum in England. Das Projekt konnte die bisherige Forschung somit nicht nur durch Details ergänzen, es zeigte die der Mythosrezeption zugrundeliegenden Dynamiken auf und half so, ihre Geschichte im spätmittelalterlichen England als genetische Entwicklung zu verstehen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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»Ovidianische Selbstbehauptung. Mythographie und Krise im spätmittelalterlichen England«, in: Frühmittelalterliche Studien 53 (2019), S. 345-368
Bernhard Hollick
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»Ovidius historizatus. Poetisches Wissen in Walsingham’s Archana deorum«, in: Mittellateinisches Jahrbuch 55 (2020), S. 207-239
Bernhard Hollick
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»Wyclif vs. Ovid: Poetry, Philosophy, and Holy Scripture in the Late Middle Ages«, in: Christine Ratkowitsch (Hg.), Medialatinitas (Wiener Studien. Beihefte: Arbeiten zur mittel- und neulateinischen Philologie), Wien 2020, S. 237-264
Bernhard Hollick