Ethik des Nichtwissens. Ein theologisch-ethisches Angebot
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Recht auf Nichtwissen wird in der bioethischen Diskussion als individuelles Abwehrrecht im Kontext der informationellen Selbstbestimmung fokussiert. Aus systematisch ethischer Sicht gehört die Thematik in die medizinethische Debatte zur Bedeutung des „Informed-Consent“ im Dienst an einer patientenorientierten Medizin, die den traditionellen ärztlichen Paternalismus zugunsten eines an der freiheitlichen Selbstbestimmung ausgerichteten Arzt-Patienten-Verhältnisses modifiziert hat. Das Forschungsprojekt unternimmt die positive Begründung des Rechts auf Nichtwissen, indem eine historisch-systematisch strukturierte, fundamentaltheologische Vergewisserung die wissenschaftsund erkenntnistheoretische Relevanz des Nichtwissens für die Theologie im Allgemeinen erschließt und für die theologische Ethik fruchtbar macht. Eine positive Begründung des Rechts auf Nichtwissen kann aus fundamentalethischer Sicht nicht erst bei den spezifischen Folgeproblemen moderner Technologien ansetzen, zumal die Option für den freiwillig gewählten Wissensverzicht in diesem Kontext leicht unter den Verdacht der Verantwortungslosigkeit gerät. Die Verortung des Themas im Horizont einer subjektphilosophischen Begründung unterstreicht die Bedeutung des Nichtwissens im Zusammenhang mit der Offenheit und Unabschließbarkeit von persönlicher Biographie und Identität. Das Recht auf Nichtwissen wird durch diesen Zugang als individuelles Freiheitsrecht im Dienst autonomer Selbstbestimmung profiliert. Die philosophisch-fundamentalethische Vergewisserung nimmt den Akteur aller Wissensprozesse, das Subjekt mit seinen Wissensmöglichkeiten, von drei ausgewählten philosophischen und philosophisch-theologischen Denkern (Nikolaus Cusanus / Dieter Henrich / Karl Rahner) her in historisch diachroner Perspektive in den Blick. Die unterschiedlichen Ansätze kommen zu der gemeinsamen Auffassung, dass das Subjekt in seinem umfassenden, Sittlichkeit und Freiheit beinhaltenden Selbstverständnis mit den vertrauten und Sicherheit gebenden Erkenntnismethoden nicht in den Griff zu bekommen ist. Als denkendes Wesen ist es auf eine Integrations- und Verständigungsleistung über sich selbst verwiesen, für die die methodisch gesicherten Erkenntnisse der Einzelwissenschaften nicht hinreichend sind. Die konkrete Ausgestaltung einer Biographie geht einher mit einer selbst gewählten Lebensform, die im Angesicht eines unaufhebbaren Nichtwissen dieses positiv zu konnotieren vermag, in einem übergreifenden Sinnhorizont verankert und mit einer dem Individuum angemessenen Selbstdeutung und Lebensgestaltung verbindet. Die theoretische wie konkrete Selbstverständigung des Menschen erhält damit die Gestalt einer „docta ignorantia“. Im Kontext der prädiktiven Medizin wird das Recht auf Nichtwissen im Dienst an einer aufgeklärten Patientenautonomie und einer patientenorientierten Medizin fundiert. Der Verzicht auf ein möglichst umfassendes Wissen wird als eine denkbare und ethisch verantwortbare Vorgehensweise mit den biogenetischen Wissensmöglichkeiten vorgestellt. Beim Recht auf Nichtwissen handelt es sich nicht um die nostalgisch-naive Flucht in „selige Unwissenheit“ (Richard Powers) oder um einen „technikaversen Irrläufer“ (Reinhard Damm). Im Fokus der Überlegungen steht ein aufgeklärtes Nichtwissen, das zur autonomen freiheitlichen Selbstbestimmung befähigt. Das positiv begründete und damit ethisch legitimierte Recht auf Nichtwissen im Rahmen der Biomedizin entlastet von der individuellen Verantwortungsüberforderung. Es vermeidet die durch Krankheitsantizipation verursachten Einbußen an persönlicher Lebensqualität. Es ermöglicht den wohlüberlegten Verzicht auf diagnostische Untersuchungsmethoden. Es ist verwurzelt in einer klugheitsorientierten Präventivethik und steht im Dienst autonomer Lebensgestaltung und Sinnerfüllung. Die praktische Relevanz der erarbeiteten Forschungsergebnisse wird unterstrichen durch die (am 01.02.2013 beginnende) Ausarbeitung eines Leitfadens zu einer theologisch informierten Patientenethik des Nichtwissens für den Umgang mit prädiktiv-medizinischen Untersuchungsverfahren. Frau Ariane Schroeder wird dieses Konzept im Rahmen einer modularisierten Weiterbildung für Ethikberater im Gesundheits- und Sozialwesen an der Katholischen Akademie für Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen in Bayern e. V. (Regensburg) in Kooperation mit der Professur für Philosophie (Schwerpunkt Angewandte Ethik) an der Universität Augsburg entwickeln.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Moraltheologie unter Geltungsrisiko. Entscheidungshilfe durch Moralsysteme? In: Rupert Scheule (Hg.), Ethik der Entscheidung. Entscheidungshilfen im interdisziplinären Diskurs, Regensburg 2009, 129-141
Klaus Arntz
- Das Recht auf Nichtwissen. Fundamentalismus in der Bioethik? In: Stephan Goertz / Rudolf Branko Hein / Katharina Klöcker (Hg.), Fluchtpunkt Fundamentalismus. Gegenwartsdiagnosen katholischer Moral, Freiburg i. Ue. 2013, 420-444
Klaus Arntz