Das Herstellen von Plausibilität in Interpretationstexten. Untersuchungen zur Argumentationspraxis in der Literaturwissenschaft
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt „Das Herstellen von Plausibilität in Interpretationstexten. Untersuchungen zur Argumentationspraxis in der Literaturwissenschaft“ analysiert in einem systematischen Ansatz die argumentative Praxis des literaturwissenschaftlichen Interpretierens. Auf der Grundlage von 87 Interpretationen, die zwischen 1995 und 2015 in philologischen Fachpublikationen im deutschsprachigen Raum erschienen sind, wurde untersucht, welche Strategien in Interpretationstexten eingesetzt werden, um Thesen zu plausibilisieren. Ausgewertet wurden Interpretationen zu zwei kanonischen und vielinterpretierten Erzähltexten der deutschen Literatur, zu Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche und Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas. Das praxeologisch ausgerichtete Projekt schließt an Studien der 1970er-Jahre an, nutzt aber aktuelle Konzepte des Argumentierens als soziale Praxis und zielt auf eine möglichst beschreibende Bestandsaufnahme argumentativer Praktiken im Fach. Es hat ein eigenes Verfahren auf hermeneutischer Basis entwickelt, das sowohl die Argumentationsstruktur der Texte als auch die verwendeten Darstellungsmittel erfasst. Die meisten Korpustexte wurden mit Hilfe eines umfangreichen Leitfadens qualitativ analysiert, ihre argumentativen Zusammenhänge wurden in Argumentbäumen festgehalten und unter verschiedenen Aspekten quantitativ ausgewertet. Die Untersuchungen ergaben, dass eine Reihe typischer Strategien eingesetzt wird, um Plausibilität zu erzeugen. Es sind Strategien, die die Schlüssigkeit und die Kohärenz der Argumentation betreffen und die sich dabei verschiedener Mittel bedienen, die die kollektive Akzeptanz der Argumentation sichern sollen. Diese Strategien sind im Projekt zum ersten Mal eingehend und auf einer breiteren Textbasis untersucht worden, was diverse Erkenntnisse über die aktuelle Interpretationspraxis erbracht hat, z.B. über Einsatz und Funktion von Argumenthäufungen, über die bevorzugten Argumenttypen, ein spezifisches Vertextungsmuster, das für Bezugnahmen auf die erzählte Welt verwendet wird, über den textsortentypischen Einsatz potenziell argumentativer Konnektoren und vieles mehr. Die Ergebnisse des Projekts tragen dazu bei, genauere Kenntnisse über eine besonders wichtige und funktionierende, aber kaum erforschte Praktik des Erzeugens und Vermittelns von Wissen in der Literaturwissenschaft zu gewinnen und implizite Regeln offenzulegen, die fach- oder bereichsspezifisch gelten. Ein positiver Nebeneffekt dieser Kenntnisse könnte die Verbesserung der innerfachlichen Kommunikation über argumentative Praktiken sein. Das vorgeschlagene und erprobte Analyseverfahren kann von nachfolgenden Projekten zur Erforschung literaturwissenschaftlicher Darstellungspraktiken genutzt werden. Die erarbeiteten Ressourcen (Leitfaden, angepasste Konnektorenliste u.a.) werden über die Projekt-Website zugänglich gemacht, das Korpus wird interessierten Forschungsprojekten auf Nachfrage zur Verfügung gestellt.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
-
Die Explizierung des Impliziten. Zu einem Grundlagenproblem der Untersuchung literaturwissenschaftlicher Interpretationspraktiken am Beispiel von Droste-Hülshoffs „Der Knabe im Moor“. In: Scientia Poetica 22 (2018), S. 180-207
Stefan Descher / Thomas Petraschka
-
Argumentieren in der Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Ditzingen 2019
Stefan Descher / Thomas Petraschka
-
Deduktive Schlüsse in der literaturwissenschaftlichen Praxis. In: Journal of Literary Theory 13/2 (2019), S. 145–160
Stefan Descher
-
Zum Werkbegriff in der gegenwärtigen Interpretationspraxis: Exemplarische Untersuchungen. In: Lutz Danneberg / Annette Gilbert / Carlos Spoerhase (Hg.): Das Werk: Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs. Berlin, Boston: de Gruyter 2019, S. 131-165. (= Revisionen 5)
Simone Winko
-
Tagset Interpretationstexte annotieren. In: ForText. Literatur digital erforschen. Ressourcen. (27.07.2020)
Stefan Descher