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DE-RE-BORD - Sozial-räumliche Transformationen in deutsch-polnischen 'Zwischenräumen'. Praktiken der Entgrenzungen und der neuen Grenzziehungen

Fachliche Zuordnung Empirische Sozialforschung
Förderung Förderung von 2017 bis 2020
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 379602417
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Im Forschungsprojekt DE-RE-BORD haben wir untersucht, in welcher Weise sich in ausgewählten deutsch-polnischen Grenzregionen, seit der Grenzöffnung in 2007 bis 2019, sozial-räumliche Transformationsprozesse entfaltet haben. Dabei sind wir davon ausgegangen, dass entsprechende Prozesse von Widersprüchen gekennzeichnet sein werden. Neben Praktiken der Entgrenzung, die durch den Abbau von Schlagbäumen eingeleitet worden sind, vermuteten wir auch Praktiken neuer Grenzziehungen (z.B. auf der ‚alltäglichen‘ Ebene). Außerdem nahmen wir an, dass aufgrund von grenzüberschreitenden Kooperationen und Bewegungen von Akteuren sowie Bewohner/-innen gleichzeitig "Zwischenräume" entstehen, die den Charakter von Hybridräumen haben, weil sich dort deutsches und polnisches Leben verbindet. Vor diesem Hintergrund lautete die übergreifende Frage: Welche sozial-räumlichen Transformationsprozesse lassen sich beobachten: Das heißt, wie können Entgrenzungen, neue Grenzziehungen sowie ggf. Konstruktionen von ‚Zwischenräumen‘ empirisch beschrieben werden? Und wie können diese Transformationen theoretisch-konzeptionell gefasst werden? Bisherige Forschungsarbeiten zu europäischen Grenzen fokussierten typischerweise vor allem grenzüberschreitende Unternehmenskooperationen und die regionale Wirtschaftsentwicklung, politische und institutionelle Regelungen für eine europäische Regionalpolitik, die Zusammenarbeit zwischen Planungsinstitutionen oder zum Beispiel grenzüberschreitende Kooperationen von Hochschulen. Nur selten hat man eine prozessuale Perspektive eingenommen und sozial-räumliche Transformationsprozesse in Grenzräumen untersucht. DE-RE-BORD adressierte diese Lücke. Das Projekt rekonstruierte diese Transformationsprozesse, indem es Diskurse in Tageszeitungen der Grenzregionen, Erfahrungen von lokalen Akteuren, die in der grenzübergreifenden Kooperationsprojekten tätig sind, sowie alltägliche Praktiken und das Wissen von Grenzbewohner/-innen untersucht hat (einschließlich der materiellen Aspekte der Handelns und der Mobilität von Subjekten). In methodischer Hinsicht kamen eine wissenssoziologische Diskursanalyse, Fotoanalysen, qualitative Leitfadeninterviews, app-basierte Tagebucherhebungen und „Walkings with Video“ zum Einsatz. Zu den zentralen Befunden gehörte unter anderem, dass die grenzraumbezogenen Diskurse zwischen 2007 und 2019 alles andere als symmetrisch und linear verliefen. Von einem gemeinsamen Diskurs, der in Richtung einer zunehmenden Entgrenzung verläuft, kann nicht die Rede sein. Zum einen herrschen in den (lokalen) Zeitungen auf der deutschen und polnischen Seite jeweils andere Diskursthemen bezüglich der Grenz(regionen) vor. Zum anderen wurde deutlich, dass die diskursiven Entwicklungen – je nach den politischen Entwicklungen – von einem zyklischen “Auf und Ab” geprägt sind, d.h. von sich abwechselnden diskursiven Entgrenzungen und neuen Grenzziehungen. Es zeigte sich ferner, dass gleichwohl durchaus verschiedene grenzübergreifende Kooperationsprojekte in Gang gekommen sind, in deren Rahmen sich Prozesse der Entgrenzung und teilweise auch der Entwicklung von Zwischenräumen in den untersuchten Grenzregionen beobachten lassen. Diese Prozesse werden von den befragten Expert/-innen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit jedoch als nicht so fortgeschritten wahrgenommen, wie es sich so manche engagierten Akteure gewünscht hätten. Die Transformationsprozesse erweisen sich vielmehr als langsam, punktuell, oft auch als temporär und in jedem Fall als ausgesprochen fragil. Stagnationen und Rückschläge gehören dazu. Ein weiteres Ergebnis ist, dass der Abbau von Schlagbäumen und Grenzkontrollen im alltäglichen Handeln von Grenzraumbewohner/-innen zwar Erleichterungen des Grenzübertritts mit sich gebracht haben und dass die Bewohner/-innen sich die jeweils andere Seite der Grenze in diesem Zuge ihren alltäglichen Praktiken aneignen. Die Regelmäßigkeit der räumlichen Nutzungen sowie die Ausdehnungen der Aktionsräume auf der jeweils anderen Seite fallen bei Polen und Deutschen allerdings wesentlich geringer als vermutet aus – bei Deutschen sogar noch geringer als bei Polen. Nicht zuletzt wurde deutlich, dass – auch wenn die Grenze aufgrund des Abbaus von Grenzinfrastrukturen nicht mehr wie früher sichtbar ist – von einer Entgrenzung im Bewusstsein nicht die Rede sein kann. Interessant ist allerdings, dass sich „die“ Grenze in den Köpfen der Proband/-innen, etwa beim Grenzübertritt in Słubice, ganz subjektiv manifestieren und im Vergleich zur früheren physischen Grenze je nach Subjekt auf unterschiedliche Weise verschieben kann. In theoretischer Hinsicht wird argumentiert, dass sich diese sozial-räumlichen Transformationsprozesse in Form von Entgrenzungen, neuen Grenzziehungen und Zwischenräumen in (deutsch-polnischen) Grenzräumen als Prozesse kommunikativer Konstruktionen und Rekonstruktionen beschreiben lassen. Grundlage dafür bilden Überlegungen des „kommunikativen Konstruktivismus“, die den ursprünglichen wissenssoziologischen Ansatz des Sozialkonstruktivismus um handlungstheoretische und diskursanalytische Elemente bereichert. Vor allem weist der Ansatz der Körperlichkeit der Akteure und den materiellen Bezügen ihrer Handlungen eine zentrale Bedeutung zu und nimmt in den Blick, wie sozio-räumliche Handlungsweisen und subjektive Erfahrungen in Relation zueinander stehen. Dabei werden auch diskursive Konstruktionen von Räumen und dadurch entstehende Wissensordnungen nicht vergessen.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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