Strategien des politischen Gegenwartstheaters in Osteuropa
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Ziel des Forschungsprojekts war es, den Zustand des politischen Theaters in Osteuropa zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu analysieren und die Frage zu beantworten, welche dramaturgischen, ästhetischen und performativen Strategien das politische Gegenwarts-theater in Osteuropa heute verfolgt. Hierbei lag der Fokus auf Ungarn, Polen und Russland und damit Ländern, in denen autoritär geprägte Regierungen ab ca. 2010 die Kunstfreiheit der Theaterschaffenden eingeschränkt haben. Der Schwerpunkt der Arbeit lag auf der Recherche. So recherchierte ich über die jüngere Geschichte des politischen Theaters in Russland, Polen und Ungarn und reiste zu Theaterfestivals sowie einzelnen Aufführungen von Theaterinszenierungen aus diesen Ländern im In- und Ausland, so u.a. nach Polen, Ungarn und Litauen. Anfang März 2020 musste ich meine Recherchen wegen der aufgrund der Covid-19-Pandemie eingeführten Reise- und Aufführungsverbote vorzeitig abbrechen. Die Situation von Theaterschaffenden im Bereich des politischen Theaters in Polen, Ungarn und Russland von ca. 2010 bis 2022 war in unterschiedlicher Ausprägung prekär. Dennoch sind die ausgewählten Arbeiten vergleichbar. Ein politisches Theater, das Dissense sowohl in der Dimension der Wahrnehmung als auch in der Dimension der Aufführung als soziales und performatives Ereignis vollzieht und zugleich die Zuschauer als emanzipierte Teilhaber an der ästhetischen und damit der politischen Praxis anspricht, ist in den ausgewählten Arbeiten vorherrschend. Darüber hinaus gibt es trotz individueller Ansätze weitere vergleichbare Merkmale, wie das dokumentarische bzw. biografische Arbeiten, die (teilweise) Arbeit mit unausgebildeten Schauspieler*innen, die (teilweise) postdramatische Auflösung von Kategorien wie Figuren und Handlung und das Erzeugen einer Nähe zu den Zuschauer*innen. Diese Merkmale sind auch im Gegenwartstheater in anderen europäischen Ländern zu dieser Zeit vorzufinden. Ein weiteres wichtiges Merkmal in allen drei untersuchten Ländern ist das Spiel mit den Grenzen zwischen Realem und Fiktivem, das Hans-Thies Lehmann als ‚Einbruch des Realen‘ bezeichnet. Die Zuschauer*innen müssen immer wieder entscheiden, was sie als real und was als fiktiv wahrnehmen. Auf diese Weise spricht das Theater die Zuschauenden als emanzipierte Zuschauende an, als Teilhaber*innen an der ästhetischen und damit der politischen Praxis. Da die autoritär geprägten Regierungen in Polen, Ungarn und Russland daran arbeiten, Sichtweisen abseits der Regierungslinie zu diffamieren bzw. zu unterbinden und die Bevölkerung zu depolitisieren, könnte das Theater eine wichtige gesellschaftliche Funktion einnehmen, indem es einen Ort darstellt, an dem die Zuschauenden ästhetische Erfahrungen machen und Entscheidungen treffen. Da die Theater aber von den Regierungen erfolgreich in ihrer Arbeit eingeschränkt wurden und werden, sind die beschriebenen Theaterformen zwar Ausdruck eines Dissens mit den Herrschenden, erhalten aber nicht genug Aufmerksamkeit, um Wirkung entfalten zu können.
