Zwischen Heimatfront und Schlachtfeld - "Kriegsbilder" in protestantischen Predigten und Andachtsschriften des Ersten Weltkriegs
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Während meines Aufenthalts in Strasbourg 2018/19 konnte ich in elsässischen Archiven und Bibliotheken intensive Quellenrecherchen und -studien für mein Habilitationsprojekt zu „Kriegsbildern“ in protestantischen Predigten und Andachtsschriften des Ersten Weltkriegs in der erweiterten Oberrheinregion durchführen. „Kriegsbilder“ werden im Projekt anhand von vier Perspektiven (Bibelrezeption; Geschichtsbilder; Systematisch-theologische und ethische Perspektiven; Frömmigkeit) erarbeitet. Mithilfe einer präzisen Quellenanalyse kann ich zeigen, dass Pfarrer im Ersten Weltkrieg keine stereotype oder einheitliche Theologie zur Reflexion und Deutung des Krieges entwickelten, wie bis heute in der Forschungsliteratur behauptet wird, sondern eine vielfältige, kontextbezogene Theologie, die von regionalen, sozialen, gesellschaftlichen, politischen und konfessionellen Kontexten geprägt war. Gerade das Elsass bietet dabei ein ausgezeichnetes Beispiel. Dies soll anhand der Geschichtsbilder in Kriegspredigten und insbesondere der deutschen Reichsgründung 1871 verdeutlicht werden. Betrachtete man im Deutschen Reich das Jahr 1871 im Rückblick als Schlüsselmoment, in dem die Deutschen endlich zu einer Nation zusammengewachsen waren, stand in Predigten von elsässischen Pfarrern, die im Ersten Weltkrieg die deutsche Nation unterstützten, dieses Datum für die Befreiung von der französischen Knechtschaft und somit für die „Deutschwerdung“ des Elsass, nicht so sehr für die Gründung einer einigen Nation. Demgegenüber betrachteten „frankophile“ elsässische Pfarrer das Jahr 1871 als den Beginn einer Leidenszeit unter der deutschen Herrschaft. Als das Elsass 1918 von Frankreich „befreit“ wurde, wurde dies von den frankophilen Pfarrern, die im Krieg oftmals durch Predigtverbote außer Gefecht gesetzt worden waren, als gottgewollte Fügung und damit als göttlicher Beweis, dass das Elsass zu Frankreich und nicht zum Deutschen Reich gehörte, gedeutet. Deutlich zu erkennen ist aber aus den Quellen ebenfalls, dass Elsässer, ob sie im Krieg nun dem Deutschen Reich oder Frankreich zuneigten, sich als „Elsässer“ fühlten und somit gerade in ihrem privaten Umfeld die regionale einer nationalen Identität vorzogen. Ähnliche Phänomene, die zeigen, dass die Nation im Ersten Weltkrieg eben nicht über allem stand, sondern auch andere Differenzkategorien zur Identitätsstiftung dienten, belegen die Predigten aus den übrigen Regionen, die untersucht wurden. In Strasbourg konnte ich diese Beobachtung sowohl im Quellenstudium erarbeiten als auch persönlich mit vielen Elsässer*innen diskutieren, die durch die Überlieferung ihrer eigenen Familiengeschichten während der beiden Weltkriege die Entwicklung des Projekts in entscheidender Weise geprägt haben. Das Projekt bietet durch die Einbeziehung bisher unbekannter Quellen sowie durch die deutsch-französisch-elsässische Perspektive nicht nur neue Einblicke in die Theologie, sondern auch in die Alltags- und Frömmigkeitsgeschichte des Ersten Weltkriegs.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Martin Luther in First World War Sermons, in: KZG 31 (2018), 118-130
Andrea Hofmann
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„Kämpfet recht!“ Themen einer evangelischen „Soldatenethik im Deutschen Reich während des Ersten Weltkriegs, in: Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contempory Society (J-Rat) 4,1 (2018) Moralities of Warfare and Religion, 88-105
Andrea Hofmann