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Paragesellschaften. Parallele und alternative Sozialformationen in den Gegenwartskulturen und -literaturen

Antragstellerin Dr. Agnes Bidmon, seit 10/2020
Fachliche Zuordnung Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Förderung Förderung von 2018 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 392619243
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In den politischen und medialen Debatten seit den 1990er Jahren werden unter dem Schlagwort ‚Parallelgesellschaften‘ Fragen gesellschaftlicher Homogenität und Heterogenität kontrovers diskutiert. Diese kreisen im europäischen Kontext vorwiegend um Phänomene wie Migration (besonders deutlich beispielsweise in Bezug auf die sog. Flüchtlingskrise 2014/15 oder die Proteste in französischen banlieues 2005 und 2019) oder um die verstärkte Präsenz separatistischer Bewegungen (wie etwa der Brexiteers seit 2016 oder der katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter seit 2017). In diesen Diskussionen sind ‚Parallelgesellschaften‘ meist als Gefahr und Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt konzeptualisiert, sie fungieren als Indizien für den Eindruck einer sozialen Krise, für eine Sehnsucht nach kultureller Homogenität und sozialer Normativität, die sich in Reaktion auf gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozesse in Folge von Globalisierung, Neoliberalismus, Migration und Pluralisierung ausprägt. Die zunehmende lebensweltliche Komplexität wird von ‚besorgten Bürgern‘ oder ‚Wutbürgern‘ bisweilen als Bedrohung oder Entregelung wahrgenommen und lässt Rufe nach Kontrolle, kultureller Stabilität und sozialer Geschlossenheit laut werden. Die Gesellschaftswissenschaften haben diese Konjunktur des Begriffs ‚Parallelgesellschaften‘ in den letzten Jahren vielfach aufgegriffen; in der Soziologie wie in der Ethnologie, in den Politikwie den Religionswissenschaften sind etliche Untersuchungen durchgeführt worden, deren Intention meist darin bestand, die empirische Haltbarkeit des Konzepts zu widerlegen und ihn als polemische und polemisierende Diskursstruktur zu enttarnen. Angesichts dieser Diagnose, wonach es sich bei ‚Parallelgesellschaften‘ weniger um eine objektive Realität als eine realitätsstiftende Zuschreibung und eine machtvolle kulturelle Narration handelt, die in der Verhandlung von Gesellschaftlichkeit und sozialer Kohäsion besteht, und angesichts der Tatsache, dass sich diese Imagination von Gesellschaftlichkeit in textuellen und audiovisuellen Ausdrucksstrategien und Formaten materialisiert, erschien eine Untersuchung des Phänomens aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive geradezu unerlässlich. Dieses Desiderats hat sich im Zeitraum von 2018-2021 das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte interdisziplinäre wissenschaftliche Netzwerk ‚Paragesellschaften. Parallele und alternative Sozialformationen in den Gegenwartskulturen‘ angenommen, das kulturwissenschaftlich arbeitende ForscherInnen aus Romanistik, Germanistik, Anglistik, Amerikanistik, Medienwissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte zu je zwei kulturvergleichenden Workshops und Konferenzen zusammengebracht hat. Die gemeinsame Arbeit verfolgte dabei zwei grundlegende Ziele: erstens, die ideologischen Aspekte der Debatten über ‚Mehrheits-‘ und ‚Parallelgesellschaften’ aufzudecken, ihre entdifferenzierenden Mechanismen zu dekonstruieren und für ambivalente Effekte, aber auch die kulturelle Dimension solcher Diskussionen zu sensibilisieren; und zweitens, den Beitrag faktualer und fiktionaler Texte sowie audiovisueller Erzeugnisse zur Aushandlung gesellschaftlicher Kohäsionsvorstellungen auszuloten und die inszenatorischen Konstanten eines alternativen heuristischen Zugangs unter dem Konzept der ‚Paragesellschaft‘ zu erarbeiten. In Dialog mit und in Ergänzung zu den gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen ging es darum, Diskurse um parallele und alternative Sozialität als Reflexions- und Experimentierräume der Gegenwartsgesellschaften zu denken.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Parallelgesellschaften : Instrumentalisierungen und Inszenierungen in Politik, Kultur und Literatur. München: Akademische Verlagsgemeinschaft, 2019
    Martin Biersack, Teresa Hiergeist, Benjamin Loy
  • Imaginationen des Sozialen. Narrative Verhandlungen zwischen Integration und Divergenz (1750-1945). Heidelberg: Winter, 2020
    Benjamin Loy, Simona Oberto, Paul Strohmaier (Hg.)
  • Glücksversprechen der Gegenwart : Kulturelle Inszenierungen und Instrumentalisierungen alternativer Lebensentwürfe. Bielefeld: transcript, 2021
    Teresa Hiergeist, Mathis Lessau (Hg.)
  • Paragesellschaften. Imaginationen – Inszenierungen – Interaktionen in den Gegenwartskulturen. Berlin: De Gruyter. 2021
    Teresa Hiergeist, Agnes Bidmon, Simone Broders, Katharina Gerund (Hg.)
 
 

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