Zweierlei Maß? Forensische Psychiatrie und Strafrechtsreform in Berlin, 1960-1980
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Welche Deutungs- und Entscheidungsmacht hatten Psychiater, die Experten für das psychisch »Abnorme«, wie trugen sie als Gutachter dazu bei, gesellschaftliche Ordnung und Machtverhältnisse zu stabilisieren oder zu verändern? Diese Frage ist von Historikerinnen häufig aufgrund von programmatischen Texten der Psychiater beantwortet worden oder anhand einzelner »großer« Strafprozesse, in denen Begutachtung eine zentrale Rolle spielte. Verbunden sind diese Studien häufig mit der Prämisse, dass forensische Psychiater mit dem Anspruch auftraten, als naturwissenschaftliche Experten der kranken oder gestörten Psyche vor Gericht objektive Wahrheiten mitteilen zu können. Für die Epoche der Strafrechtsreformen um 1970 sind hier nun erstmals professionelle Routinen an einem großen Querschnittsmaterial in Ost- und Westdeutschland untersucht worden. Das Projekt beschreibt zudem die Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen der Begutachtungspraxis, wie führende Gutachter in den beiden deutschen Staaten sie selbst wahrnahmen. Sie waren sich einig, dass Gutachten zahlreiche nicht- oder unwissenschaftliche Elemente enthalten mussten, weil sie die Auslegung von Rechtsnormen einkalkulieren und sich an den sozialen Regeln des Zusammenlebens orientieren sollten. Forensische Psychiater in Ost und West verstanden sich als Dienstleister und Berater der Justiz, die eine besondere Leistung anzubieten hatten: die Fähigkeit, zwischen psychiatrischer Klinik und Wissenschaft einerseits und der Strafjustiz auf der anderen Seite zu übersetzen, eine Verständigung zu gewährleisten. Wertsetzungen, unsicheres Wissen und Subjektivität waren konstitutive Anteile der forensisch-psychiatrischen Praxis, die mit einem Qualitätsbewusstsein und der Verpflichtung auf Unparteilichkeit in Einklang zu bringen waren. Es handelt sich um eine Doppellokalstudie zweier gutachtender Einrichtungen in Berlin, die nicht repräsentativ für andere vergleichbare Institutionen in beiden deutschen Staaten steht. Hier müssten weitere Untersuchungen folgen, ebenso wie vergleichende Studien zur Begutachtung von Zeuginnen oder zu Prognosen für Sicherheitsverwahrte. Dennoch hat das Projekt ein differenzierteres Verständnis der psychiatrischen Begutachtungspraxis geschaffen, auf dessen Grundlage Fragen nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Psychiatrie, nach dem Status von Experten für die Regierung moderner Gesellschaften, nach dem sich wandelnden Verhältnis von Normalität und Abweichung neu diskutiert werden können.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Die Reform der »Psychopathie«. Forensisch-psychiatrische Begutachtung im geteilten Berlin, 1960-1980, Themenheft »Zur Zeitgeschichte ›abnormer Persönlichkeiten‹«, Gesnerus 77 (2020) 2 S. 244-278
Alexa Geisthövel
(Siehe online unter https://doi.org/10.24894/Gesn-de.2020.77011) - Lokale Praxis einer »Leitinstitution«. Die Gerichtspsychiatrische Abteilung der Charité-Nervenklinik 1960 bis 1980, in: Ekkehardt Kumbier (Hg.): Psychiatrie in der DDR II. Weitere Beiträge zur Geschichte. Berlin: Bebra 2020, S. 197-210
Alexa Geisthövel
- Themenheft »Zur Zeitgeschichte ›abnormer Persönlichkeiten‹«, Gesnerus 77 (2020) 2
Alexa Geisthövel (Hg.)
(Siehe online unter https://doi.org/10.24894/Gesn-de.2020.77009)