Die Umweltepigenetik situiert verstehen. Eine vergleichende, akteurszentrierte Studie der Umweltepigenetik als aufstrebender Forschungsansatz in drei Forschungsfeldern.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Epigenetik erforscht Veränderungen in der Genaktivität, die nicht durch Mutationen im genetischen Code ausgelöst werden, sondern durch chemische Modifikationen auf der DNA. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass epigenetische Modifikationen und damit die Genexpression durch Umwelteinflüsse signifikant verändert werden können, etwa durch Umweltgifte, Ernährung, oder Stress. Die daraus resultierenden Forschungszugänge der „Umweltepigenetik“ eröffnen so neuartige, wichtige Möglichkeiten für Lebenswissenschaften und Gesellschaft, um die Entstehung einer Vielzahl von Krankheiten besser zu verstehen. In den Sozialwissenschaften wurde die Umweltepigenetik bisher mit Enthusiasmus und Skepsis rezipiert. Manche sehen hier eine neue Form der Biologie, die die Relevanz sozialer Kontexte für biologische Prozesse anerkennt und es erlaubt, Fragen sozialer Gerechtigkeit in die biologische Forschung zu integrieren. Andere bezweifeln, dass die Umweltepigenetik tatsächlich eine solche Öffnung darstellt und mit biozentrischen Perspektiven bricht, und befürchten, dass die epigenetische Markierung einen neuen Ort biologischer Determinierung darstellen könnte. Die Einschätzungen der epistemischen, sozialen und politischen Potenziale der Umweltepigenetik divergieren also derzeit signifikant. Wir postulieren, dass diese Dissonanz zum Teil darauf beruht, dass das Aufkommen der Umweltepigenetik häufig als einheitliche epistemische Transformation diskutiert wird. Die Charakteristika der Umweltepigenetik werden meist quer zu Forschungsfeldern diskutiert, ohne auf feldspezifische Unterschiede zu achten. Dieses Projekt wählt stattdessen den Zugang, systematisch zu vergleichen, welche Charakteristika die Umweltepigenetik in drei Forschungsfeldern von großer gesundheitspolitischer Relevanz annimmt: in der Ernährungsepidemiologie, der Umwelttoxikologie und der Pathophysiologie von Angst- und Affektstörungen. Anhand dieses Vergleichs haben wir festgestellt, dass die Epigenetik zwar für alle drei Bereiche eine Antwort auf lang bestehende Fragen darstellt, aber unterschiedliche epistemische und soziale Dynamiken erzeugt. In der Toxikologie ermöglicht sie es, subtilere Wirkungen von Giftstoffen zu erfassen, aber es ist unklar, wie dieses Wissen in politische Empfehlungen umgesetzt werden kann. In der Pathophysiologie von Stimmung und Angst sind klinische Forscher*innen bereit, die Epigenetik als Biomarker für die Auswirkungen von Lebenserfahrungen auf die psychische Gesundheit zu nutzen, aber Molekularbiolog*innen sind skeptisch, ob diese Biomarker wirklich aussagekräftig sind. In der Ernährungsepidemiologie beziehen sich Forscher*innen in hohem Maße auf die Epigenetik als Beweis für die lang gehegte Überzeugung, dass die Ernährung im frühen Leben eine zentrale Bedeutung für Gesundheit über den Lebensverlauf hinweg hat, aber nur wenige Forschungen liefern tatsächlich mechanistische Beweise. Unsere Studie bestätigt damit, dass es zum Verständnis der epistemischen, sozialen und politischen Bedeutung der Epigenetik notwendig ist, ihre konkrete Verwendung in spezifischen Forschungskontexten mit unterschiedlichen epistemischen Traditionen und Verbindungen zu Wissenschaft und Politik zu untersuchen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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DOHaD in science and society: emergent opportunities and novel responsibilities. Journal of Developmental Origins of Health and Disease, 10(3), 268-273.
Penkler, M.; Hanson, M.; Biesma, R. & Müller, R.
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Back to normal? Building community resilience after COVID-19. The Lancet Diabetes & Endocrinology, 8(8), 664-665.
Penkler, Michael; Müller, Ruth; Kenney, Martha & Hanson, Mark
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Caring for biosocial complexity. Articulations of the environment in research on the Developmental Origins of Health and Disease. Studies in History and Philosophy of Science, 93, 1-10.
Penkler, Michael
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Doing Environments in DOHaD and Epigenetics. The Handbook of DOHaD and Society, 249-257. Cambridge University Press.
Rossmann, Sophia & Samaras, Georgia
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The evolution of ACEs: From coping behaviors to epigenetics as explanatory frameworks for the biology of adverse childhood experiences. History and Philosophy of the Life Sciences, 46(4).
Müller, Ruth & Kenney, Martha
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The Handbook of DOHaD and Society. Cambridge University Press.
Pentecost, M.; Keaney, J.; Mol, T. & Penkler, M.
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Toxicity as process: tracing a new epigenetic regime of im/perceptibility in environmental toxicology. Science as Culture, 34(3), 275-303.
Rossmann, Sophia & Müller, Ruth
