Russländische Wissenschaftler im ‚Nahen Osten‘: Archäologische Expeditionen und imperiale Kulturpolitik, 1856-1914
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das DFG-Projekt „Russische Wissenschaftler im ‚Nahen Osten‘: Archäologische Expeditionen und imperiale Kulturpolitik, 1856-1914“ wurde in den Jahren 2019 bis 2022 auf der Grundlage dreier Archivreisen und durch die Assoziation an das Schwerpunktprogramm Transottomanica erfolgreich durchgeführt. Die Forschungsergebnisse wurden vor der Finalisierung eines Buch-Manuskripts am 21. Januar 2022 in einem Online-Workshop der Justus-Liebig-Universität Gießen noch einmal in einen breiteren Kontext erörtert. Das Projekt hat die Bedeutung „weicher“ kulturpolitischer Maßnahmen für die internationale Politik herausgearbeitet. Es versteht sich damit als Beitrag zur Imperial- und Wissensgeschichte des Russländischen Reiches und zu neueren Ansätzen in der Erforschung der „Orientalischen Frage“. Die wichtigsten Befunde lassen sich wie folgt zusammenfassen: Nach dem Krimkrieg erkannten ranghohe Beamte, dass die kulturellen Projekte westeuropäischer Mächte im „Nahen Osten“ die Konkurrenzfähigkeit des Russländischen Reiches unterminierten. Als Antwort darauf baute das Zarenreich in Palästina eine funktionsfähige Infrastruktur auf: Es gründete Auslandsschulen, Krankenhäuser, Quartiere für Pilger und Reisende und bot großzügige Preisnachlässe für Gruppenvisa sowie Zug- und Dampfschifftickets an. Außerdem wurde Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache betrieben. Die Gründung der Kaiserlichen Orthodoxen Palästinagesellschaft im Jahr 1882 war ein Meilenstein bei der Erschließung des „Heiligen Landes“. Mit dem Russischen Archäologischen Institut in Konstantinopel im Jahre 1894 wurde ein weiteres kulturpolitisches Projekt realisiert, das wissenschaftliche Aktivitäten in der Region bündelte und das Prestige der der russländischen Byzantinistik im Ausland unterstrich. Auch wenn russländische Wissenschaftler nach eigener Einschätzung mit den großen Entdeckungen der westlichen „orientalisch“ motivierten Archäologie nicht mithalten konnten, so gelang es ihrer „archäologisch“ inspirierten Byzantinistik doch, eine führende Rolle einzunehmen. Deren Leistung wird in der Wissenschaftsgeschichte bis heute geschätzt. Politische Kapital konnte das Zarenreich aus dieser Entwicklung hingegen nur bedingt schlagen, was vor allem mit konkurrierenden „small-power imperialisms“ zu tun hatte. Mit der wissenschaftlichen Erschießung des „Ostens“ ging auch eine Unterscheidung zwischen „Zivilisation“ und „Barbarei“ einher. Aus Gründen politischer Opportunität betrieb das Zarenreich auf dem Balkan keine ausbeuterischen Praktiken wie im russischen Turkestan. Der Ausbau der imperialen Infrastruktur hatte indessen nicht intendierte Konsequenzen: Mobile Akteure brachten durch die Interaktion mit ägyptischen Nationalisten archäologiekritisches Wissen ins Zarenreich, das in der demokratischen Presse zu zirkulieren begann und auf Umwegen Edward Said beeinflusst haben könnte.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Verflechtungen zwischen dem Moskauer, Petersburger und dem Osmanischen Reich. In: Transottomanica – Osteuropäisch-osmanisch-persische Mobilitätsdynamiken. Perspektiven und Forschungsstand. Hrsg. v. Stefan Rohdewald, Stephan Conermann, Albrecht Füss. Göttingen 2019, S. 191-206
Thomas M. Bohn, Christoph Witzenrath
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History and Politics: Macedonia in the Assessment of Pavel N. Miliukov. In: Philanthropy, Conflict Management, and International Law. The 1914 Carnegie Report on the Balkan Wars of 1912/1913. Ed. by Dietmar Müller, Stefan Troebst. Budapest 2022
Thomas M. Bohn