Medizinische Verflechtung im Kalten Krieg: Vorgeschichte, Aushandlung und Alltag des deutsch-deutschen Gesundheitsabkommens
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Projektrecherchen bestätigten die im Antrag formulierte These, dass die Beziehungen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens zwischen den beiden deutschen Nachkriegsstaaten trotz Systemkonkurrenz und bundesdeutscher Nichtanerkennungspolitik gegenüber der DDR auch in der Hochphase des Kalten Krieges nie abbrachen und mit dem 1974 abgeschlossenen Gesundheitsabkommen auf eine offizielle Ebene gehoben wurden. Beispielhaft wurde dies anhand der Bekämpfung von Infektionskrankheiten, der Durchführung von Spezialbehandlungen sowie der Gewährung von medizinischer Hilfe bei akuten Krankheitsfällen untersucht. Wesentliche im Gesundheitsabkommen fixierte Regelungen zur Zusammenarbeit hatten ihre Grundlagen in zuvor informell geübten Praktiken. Dies zeigt sich am deutlichsten bei der Gewährung von kostenloser medizinischer Hilfe in akuten Krankheitsfällen für Einreisende aus dem jeweils anderen Staat, die beide Seiten als Kernstück des Gesundheitsabkommens betrachteten. Sie wurde bereits seit den 1950er Jahren praktiziert und war vor allem dem gesamtdeutschen Anspruch geschuldet, den beide Staaten zu Legitimationszwecken erhoben. Ein weiteres wesentliches Ergebnis ist die Bedeutung der politischen Faktoren. Das Gesundheitsabkommen war Bestandteil der Deutschlandpolitik beider Staaten, die trotz der gegenseitigen staatsrechtlichen Anerkennung mit dem Grundlagenvertrag weiterhin unterschiedliche Auffassungen in der nationalen Frage vertraten. Wenngleich in den Verhandlungen auch Meinungsverschiedenheiten in Sachfragen auftraten, stellten die unterschiedlichen deutschlandpolitischen Positionen größere Hindernisse dar. Hierzu zählte auch die Frage der Einbeziehung Berlins. Ähnlich wie beim Abschluss des dt.-dt. Kulturabkommens mussten beide Seiten Kompromissbereitschaft zeigen. In den Beauftragtengesprächen, die die Durchführung des Gesundheitsabkommens moderieren sollten, setzte sich die Dominanz politischer Fragen fort. Sichtbarster Ausdruck auf DDR-Seite war die regelmäßige Gegenzeichnung der Direktiven und Protokolle der Beauftragtengespräche durch Erich Honecker persönlich bis kurz vor dem Kollaps des SED-Staates im Herbst 1989. Gleichwohl betrachteten beide Staaten die Realisierung des Gesundheitsabkommens als eine Erfolgsgeschichte. Wie Akten und Zeitzeugeninterviews gleichermaßen und überraschend belegen, spielte hierbei die „Chemie" zwischen den auf beiden Seiten agierenden Ministeriumsmitarbeitern sowie ihr persönliches Engagement bei der Realisierung von lebensrettenden Maßnahmen eine zentrale Rolle. Das Gesundheitsabkommen war Teil eines Vertragsnetzes, mit dem die sozialliberale Koalition eine Normalisierung der dt.-dt. Beziehungen und Verbesserungen der humanitären Situation auf beiden Seiten der Mauer anstrebte. Diesem Anspruch wurde das Gesundheitsabkommen gerecht, nicht zuletzt aufgrund der großen Schnittmenge der Interessen. Die gewonnenen Ergebnisse können für Vergleichsstudien über andere Folgeabkommen zum Grundlagenvertrag herangezogen werden. Sie können zeigen, ob die als positiv wahrgenommene Durchführung des Gesundheitsabkommens vor allem den damit verbundenen humanitären Aspekten geschuldet war oder eine generelle Entwicklung in den innerdeutschen Beziehungen widerspiegelt. Die Projektergebnisse bilden zudem eine empirische Grundlage für Folgeuntersuchungen zur Bedeutung der bei der Realisierung des Gesundheitsabkommens geknüpften Verbindungen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozess.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Medizinische Verflechtung und Systemkonkurrenz im Kalten Krieg: Poliobekämpfung im geteilten Berlin. Medizinhistorisches Journal, 55(2), 132.
Hinz-Wessels, Annette
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Medizinische Spezialbehandlungen in Westdeutschland. Verwaltungshandeln und kommunikative Praxis in der DDR, in: Thomas Großbölting/ Klaus Große Kracht (Hg.): Verwaltungslogik und kommunikative Praxis. Wirtschaft, Religion und Gesundheit als Gegenstand von Bürokratie in Deutschland 1930-1960, Stuttgart 2021, S. 367–394
Annette Hinz-Wessels
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Entscheidungsprozesse der bundesdeutschen Gesundheitspolitik im Kalten Krieg – die Einführung der Schluckimpfung in der Bundesrepublik im Jahr des Mauerbaus. VIRUS - Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin, 1(2022), 213-236.
Hinz-Wessels, Annette
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Medizinische Spezialbehandlungen von DDR-Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland und in den osteuropäischen Bruderstaaten. Historia Hospitalium (2024, 9, 9), 15-36. American Geophysical Union (AGU).
Hinz-Wessels, Annette
