Kulturelle Transformationen und populärwissenschaftliche Adaptationen psychologischen Wissens durch Eltern in der Türkei. Eine qualitative Studie
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Psychologisches Wissen und psychologische Praktiken und Techniken (wie etwa die Psychotherapie) verändern nicht nur die Forschung, sondern auch das Alltagsverständnis. Begriffe wie Ödipuskomplex, Bindungsstil oder Intelligenz sind fester Bestandteil von Sprache und Kultur. Sie prägen die Art und Weise, mit der Menschen sich und andere beschreiben, sich Handlungen erklären und psychische Phänomene bewerten. Solche Prozesse der Psychologisierung wurden in der Soziologie bereits mehrfach analysiert, hierzu zählen die Untersuchungen von Illouz (2008) zu Ehekonflikten oder die Arbeiten von Rose (1998) zum Selbstmanagement. Diesen Studien ist gemeinsam, dass sie psychologisches Wissen in Kulturen des sogenannten Westens untersuchen, in denen die Psychologie eine hohe Anerkennung erfährt. Weniger gut erforscht ist, welche Rolle psychologisches Wissen im Alltag von Kulturen jenseits des Westens spielt und wie es dort aufgegriffen, aber auch verändert wird. Am Beispiel der Türkei untersuchte das Forschungsprojekt genau diese Frage. Die Psychologie ist seit über 100 Jahren an türkischen Universitäten verankert, spielt im Alltag allerdings eine deutlich geringere Rolle als beispielsweise in Deutschland. Das Forschungsprojekt greift einen exemplarischen Kontext heraus, und zwar die Alltagstheorien von Müttern über ihre Kinder und die Eltern-Kind-Beziehung. Diese Alltagstheorien wurden mithilfe qualitativer Interviews (N = 21) mit Müttern aus Istanbul und Sinop erhoben. Die Ergebnisse konnten mit eigenen Forschungsergebnissen aus Deutschland verglichen werden. Insgesamt hat sich gezeigt, dass psychologisches Wissen in geringerem Umfang in die Reflektionen der türkischen Eltern eingeflochten wird als in Deutschland. Drei Themen wurden vertiefend ausgewertet: • Geschwisterbeziehungen: Von allen Interviewten wird die emotionale und soziale Verbundenheit der Geschwister als Ideal hervorgehoben. Beschreibungen von Geschwisterkonflikten werden mit solchen von Empathie und Solidarität begleitet. In keinem der Interviews wird die Notwendigkeit einer individuellen Entwicklung der einzelnen Geschwister thematisiert, wie dies in Deutschland hervorgehoben wird. Auch (indirekte) Verweise auf den Einfluss der Geschwisterfolge auf die Persönlichkeit fehlen. • Stillen: Expertenwissen prägt die Vorstellungen vom Stillen und von Kinderernährung auch in der Türkei. Dabei handelt es sich vorwiegend um medizinisches Wissen (z.B. WHO-Empfehlung), eine psychologisierte Perspektive auf das Stillen wird nur in Einzelfällen eingenommen. Ausführlich beschreiben die Mütter ihre eigene körperliche Erfahrung beim Stillen, sowie die hergestellte Verbundenheit mit dem Kind – allerdings nicht mit Rückgriff auf das Vokabular der Bindungstheorie (wie in Deutschland). Mütter, die Schwierigkeiten mit dem Stillen haben, leiden aber auch in der Türkei unter dieser Erfahrung. • Trennung vom Kind aufgrund von Betreuung: Wie in Deutschland erleben die Mütter die ersten Trennungen vom Kind als schmerzhaft, aber auch als Erleichterung. Die Betreuung außerhalb der Familie wird als „fremd“ wahrgenommen und ihr wird von einigen Misstrauen entgegengebracht, hingegen wird die Betreuung durch andere Familienmitglieder begrüßt . Während Eltern in Deutschland betonen, dass Betreuung im Kindergarten die Entwicklung der Kinder fördere und wichtig für ihre Selbstständigkeit sei, betrachten die türkischen Mütter diese Institutionen als Notwendigkeit, die sie am liebsten meiden würden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Early pioneer of social psychology in Turkey: Prof. Dr. Çiğdem Kağıtçıbaşı. Kongress der DGPs, Hildesheim.
Kapısız, Z. & Sieben, A.
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Mothers’ ethnotheories of sibling relationships: A qualitative study in Turkey. Conference of International Society for Theoretical Psychology, Sacramento, (Online).
Kapısız, Z.
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Mothers’ ethnotheories of sibling relationships:A qualitative study in Turkey. Culture & Psychology, 30(2), 345-366.
Kapısız, Zeynep & Sieben, Anna
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Psychologisierung. Kulturpsychologie, 387-398. Springer Fachmedien Wiesbaden.
Sieben, Anna
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Psychologization and parental ethnotheories in Turkey. A qualitative interview study. Tagung der Gesellschaft für Kulturpsychologie und der Fachgruppe Geschichte der Psychologie, Bochum.
Sieben, A. & Kapısız, Z.
