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Utopien der Aufklärung zwischen moral sense theory und praktischer Ästhetik

Fachliche Zuordnung Germanistische Literatur- und Kulturwissenschaften (Neuere deutsche Literatur)
Förderung Förderung von 2019 bis 2022
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 428887709
 
Erstellungsjahr 2022

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Projekt untersuchte die Entwicklung des utopischen Diskurses vom frühen 18. bis zum frühen 19. Jahrhundert, und zwar anhand seiner Bezüge sowohl zum moraltheoretischen Diskurs als auch zum Programm einer Historia Pragmatica. Das Corpus der untersuchten literarischen Texte umfasst dabei Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719), Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731–43), Louis-Sébastien Merciers Das Jahr 2440 (LʼAn Deux Mille Quatre Cent Quarante, 1770/71), Wilhelm Heinses Ardinghello und die glückseligen Inseln (1786), Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) und Erscheinungen am See Oneida (1798), Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon (1766/67) und Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1800/01), Novalisʼ Heinrich von Ofterdingen (1800/02) sowie Achim von Arnims Erzählungen Albert und Concordia (1809) und Juvenis (1818). Vor allem die Projektmonographie konnte zeigen, dass die von der Utopieforschung für diesen Zeitraum beschriebene »Verzeitlichung der Utopie« (Koselleck) bzw. ihre »Subjektivierung« (Voßkamp) und »Dynamisierung« (Jaumann) in enger Beziehung zu der zeitgleichen Entwicklung des moraltheoretischen Diskurses stand. Dieser in den utopischen Texten 1720–1820 stattfindende Perspektivenwechsel vom Zustand Vollkommenheit der idealen Gesellschaft hin zur Vervollkommnung des Menschen und seiner Gemeinschaft schließt nämlich an Überlegungen über die Internalisierung allgemeiner moralischer Normen an, wie sie u. a. von der moral sense theory und von den Begründern der wissenschaftlichen Ästhetik diskutiert wurde. Hierbei berücksichtigte das Projekt vor allem die Theorien Shaftesburys, Alexander Gottlieb Baumgartens, Georg Friedrich Meiers, Friedrich Justus Riedels, Jean-Jacques Rousseaus und behält dabei auch deren Abgrenzungsbewegungen zum Rationalismus der Wolff-Schule ebenso wie zum Materialismus (La Mettrie, dʼHolbach) im Auge. Die genregeschichtliche Entwicklung der Utopie ist jedoch nicht nur mit solchen philosophiehistorischen Entwicklungen verbunden, sondern lässt sich letztlich nur angemessen vor literaturgeschichtlichem Hintergrund verstehen: Das Projekt konnte für den Untersuchungszeitraum eine dritte entscheidende Entwicklung nachweisen, und zwar die in den Romantheorien seit dem Ende des 17. Jahrhunderts debattierte Leistungsfähigkeit des Romans als einer Historia Pragmatica. Dabei handelt es sich um eine Form der Geschichtsschreibung, die zum einen auf den Vollkommenheitszweck ebenso ausgerichtet war wie Metaphysik, praktische Philosophie und eben die Utopie und die zum anderen der empirisch-psychologischen Kohärenz einen ebenso großen Stellenwert einräumte: Das Verhalten und Handeln des Menschen, so forderten die Theorien der pragmatischen Geschichte, sollte schlüssig und nachvollziehbar sein, d. h. der conditio humana entsprechen. Aus diesem erfahrungsseelenkundlichen Kohärenzpostulat wurde eine spezifische Legitimation der Fiktion geschlussfolgert, die sowohl dazu führte, dass ein Naturrechtsprofessor wie Nicolaus Hieronymus Gundling seinen Studierenden die Lektüre des Robinson Crusoe empfahl, um sich eine angemessene Vorstellung des Naturzustandes des Menschen zu machen, als auch dazu, dass Christoph Martin Wieland seinen Roman Geschichte des Agathon als »pragmatisch-critische Geschichte« bezeichnete. Diese Nobilitierung der Gattung Roman als Historia Pragmatica im Allgemeinen, die das Projekt von Gerhard Vossius über Christian Thomasius, Johann Christoph Adelung und Christian Friedrich von Blanckenburg bis zu Friedrich Schlegel nachzeichnete, ging am Genre Utopie im Besonderen nicht spurlos vorbei. Utopische Texte durften trotz aller Vervollkommnungsideale die anthropologischen Annahmen von der Affektbehaftung des Menschen und die widrigen Umstände, in die er sich häufig geworfen sieht, nicht mehr ignorieren. Diese Dreiecksbeziehung zwischen dem utopischen Denken, der auf politische Reformen blickenden Moraltheorie und den poetischen Innovationen der Historia Pragmatica untersuchte das Projekt im Durchgang durch die oben genannten utopischen Texte und konnte dabei auch nachweisen, wie diese juristische und naturrechtliche Lehrbestände von Thomas Hobbes über Samuel Pufendorf und John Locke bis Paul Feuerbach auf die Probe zu stellen versuchten.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Utopie und Lebenszeit in der Aufklärung. In: Daphnis 49 – 4 (2021), S. 655–681
    Oliver Bach
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1163/18796583-12340035)
  • »Der freie Wille der Elisabeth allein«. Politik und Recht in Friedrich Schillers ›Maria Stuart‹ (1800). In: Ästhetische Staaten. Ethik, Recht und Politik in Schillers Werk. Hg. von Matthias Löwe u. Gideon Stiening. Baden-Baden 2021, S. 103–141
    Oliver Bach
    (Siehe online unter https://doi.org/10.5771/9783845277813-103)
  • Daniel Defoes ›The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe‹ und die Hallenser Aufklärung. In: 300 Jahre ›Robinson Crusoe‹. Ein Weltbestseller und seine Rezeptionsgeschichte. Hg. von Christine Haug, Johannes Frimmel u. Bill Bell. Berlin, Boston 2022, S. 95–120
    Oliver Bach
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110776195-006)
  • »zu strafen und zu rächen«. Friedrich Schillers ›Wilhelm Tell‹ über das Recht und die Pflicht zu strafen. In: Vom »Theater des Schreckens« zum »peinlichen Rechte nach der Vernunft«. Literatur und Strafrecht im 17. und 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Eric Achermann u. Gideon Stiening. Stuttgart 2022 (Literatur und Recht 5), S. 281–325
    Oliver Bach
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-662-64092-0_13)
 
 

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