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„Deaf History“ im deutschsprachigen Raum. Die Geschichte einer Minderheit im interdisziplinären Austausch

Antragstellerin Marion Schmidt, Ph.D.
Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Wissenschaftsgeschichte
Förderung Förderung von 2020 bis 2024
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 440231776
 
Erstellungsjahr 2024

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Die Geschichte gehörloser Menschen reicht bis mindestens in die Antike zurück. Gehörlosengeschichte unter Einbeziehung der Perspektiven gehörloser und schwerhöriger Menschen ist, insbesondere im deutschsprachigen Raum, jedoch ein noch relativ junges, interdisziplinäres Forschungsfeld. Dass hat zwei Gründe: 1) Mangelnde Barrierefreiheit und Diskrimination im Bildungswesen, die bis heute verhindert, dass gehörlose Menschen selbst studieren und forschen können. 2) Die wenigen Menschen, die zur Gehörlosengeschichte forschen, kommen aus sehr unterschiedlichen Fachrichtungen und sind über Deutschland, Österreich und die Schweiz verteilt. Diese Zersplitterung verhindern einen systematischen Austausch ebenso wie eine fachliche Vernetzung. Hier setzte das DFG-Netzwerk „'Deaf History' im deutschsprachigen Raum“ an, das von 2020 bis 2024 Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen – den Geschichtswissenschaften, der Linguistik, Pädagogik und den Medienwissenschaften – und Vertreter*innen der Gehörlosenverbände zum Austausch zusammenbrachte. Ziel war es, die Erforschung der Gehörlosengeschichte voranzutreiben und Forschungslücken zu schließen. Als Teil der Medizin-, Sozial- und Bildungsgeschichte, der Medien- und Sprachgeschichte stellt die Gehörlosengeschichte Fragen nach Ausgrenzung und Chancengleichheit auf, nach der Deutungshoheit der Wissenschaft gegenüber den Rechten und der Autonomie des Individuums und von Minderheiten. Sie hinterfragt soziokulturell geprägte Definitionen von „Behinderung“ und „Normalität“. In der Arbeit des Netzwerks kristallisierten sich vier inhaltliche Schwerpunkte heraus: 1) politische Kontexte. So spielen in Deutschland (und Österreich) weiterhin die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und ihrer Auswirkungen bis in die Gegenwart eine große Rolle. Ein spezifisch deutsches Thema ist hingegen die Auswirkung der deutschen Teilung im Kalten Krieg auf Bildung, Beruf, Vereinsleben sowie politische und gesellschaftliche Teilhabe gehörloser Menschen. 2) Spracherwerb und Bildung. Seit den ersten staatlichen Schulgründungen für taube Kinder im späten 18. Jahrhundert war die Gehörlosenbildung geprägt von der oft vorurteilsbehafteten Diskussion um Methoden des Spracherwerbs. Etwa zwischen den 1880er und 1980er Jahren wurden Gebärdensprachen zugunsten der lautsprachlichen Unterrichtsmethode unterdrückt oder gar verboten. Die Ursachen für den Wandel in der Wahrnehmung von Laut- und Gebärdensprachen ist ein grundlegendes Thema in der deutschsprachigen und internationalen Gehörlosengeschichte. 3) Die Geschichte schwerhöriger Menschen und ihre Verbindung zur Gehörlosengeschichte, die noch kaum erforscht ist. 4) Die Selbst- und Fremdwahrnehmung gehörloser und schwerhöriger Menschen in der hörenden Gesellschaft sowie deren Repräsentation in verschiedenen Medien. Besonders wichtig war es uns im Netzwerk, dass die Forschung zur Gehörlosengeschichte für taube und schwerhörige Menschen zugänglich ist. Deshalb wurden die Forschungsergebnisse sowohl als klassischer Sammelband veröffentlicht wie auch als untertitelte Videos in Deutscher Gebärdensprache. Diese finden sich auf der Projektwebseite. Die Arbeit des Netzwerkes zeigt, dass Gehörlosengeschichte ein wichtiger Teil der Geschichtsschreibung schlechthin ist und diese mit teils ungewohnten Perspektiven auf scheinbar vertraute Personen und Ereignisse bereichert. Es bleiben jedoch auch weiterhin große Forschungslücken bestehen, die in Folgeprojekten angegangen werden sollten. Müller, Anna Laura, Gehörlosigkeit schafft eine eigene Kultur. Frankfurter Rundschau, 23.09.2023.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • „Denn die Pantomime, die Muttersprache des Taubstummen, ist unserer Wortsprache gerade entgegen!“ (Eschke), Das Zeichen 34.116, November 2020, 358-375
    Wolff, Sylvia
  • Building an Organization According to Our Own Wishes: Deaf Agency in East Germany, 1945 to 1960. German Studies Review 45.3, October. 2022, 455-475
    Werner, Anja
  • Deafness and “Disfigurement” as Relational Disorders:. Disability in German-Speaking Europe, 66-86.
    Schmidt, Marion
  • Taube Juden_Jüdinnen: Eine sozio-historische Annäherung an eine transnationale und hybride Gemeinschaft im 19. und 20. Jahrhundert“. Dissertation, Hamburg 2023
    Zaurov, Mark
  • Blindness, Acoustic Environing and Sensing Technologies (ca. 1950-1980). puntOorg International Journal, 9(1), 5-30.
    Stock, Robert
  • Das DFG-Netzwerk Gehörlosengeschichte 2020-24: Herausforderungen und Chancen für eine barrierearme (Geschichts-)Wissenschaft, Das Zeichen 38.123, Oktober 2024
    Werner, Anja & Schmidt, Marion
  • Unerhörte Bildungsbiografien 1812–1869. Warum es eine teilpartizipative Methode und Erfahrungswissen in der intersektionalen Dis/ability History braucht. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften. 35.3
    Hofer, Lisa Maria
  • Unsichtbare Geschichte(n) sichtbar machen. Gehörlose und schwerhörige Menschen im deutschsprachigen Raum vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Campus, 2024
    Werner, Anja & Schmidt Marion (Hg.)
  • »Deaf History« als Wissenschaftsgeschichte.
    Werner, Anja
 
 

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