Die Schwellen des Asyls: Eine Literatur- und Diskursgeschichte
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Profitierend von der migrations- und exilgeschichtlichen Expertise der Kolleg*innen am CIELAM der Aix-Marseille-Université und am Pariser Collège d’études mondiales wurde ein Forschungsprojekt verfolgt, das die bislang schwach erforschte Asylproblematik der Frühen Neuzeit und der frühen Moderne begriffs-, problem- und darstellungsgeschichtlich aufarbeitet. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass literaturgeschichtliche Entwicklungen und Gattungen die Frage des Asyls intensiv prozessieren und dabei sowohl auf das frühaufklärerische Völkerrecht Bezug nehmen als auch auf ältere theologische Asylsemantiken. Die publizistischen Asyldiskurse des frühen 18. Jahrhunderts erzeugen dann, so konnte gezeigt werden, begriffliche Schärfungen, die den strafrechtlichen Asylbegriff überschreiben und säkulare Fluchtmodelle entwickeln. Zwei Publikationen wurden während des Forschungsaufenthalts erarbeitet und leuchten Anfangs- wie Endphase des untersuchten Gesamtzeitraums aus. Der Aufsatz "Asyl als Schwelle" liefert eine historische Skizze frühneuzeitlicher Asylsemantiken, die konzeptuell wie ideengeschichtlich den komplexen Nährboden des modernen Asylrechts bilden. Die analytische Gegenüberstellung frühneuzeitlicher Asylsemantiken mit dem gegenwärtigen Asylrecht zeigt, dass sich die Geschichte des Asylrechts als Geschichte von Raumpraktiken beschreiben lässt. Die Studie "Politisches Verbrechen und mythische Schuld" untersucht die konzeptuellen Konsequenzen des vormärzlichen 'politischen Asyls' für Darstellungsverfahren des poetischen Realismus und zeigt, dass sich bereits bei Theodor Fontane zentrale Aporien des modernen Asylbegriffs abzeichnen. Die Arbeit am CIELAM erbrachte eine grundlegende und produktive Akzentverschiebung des Untersuchungszeitraums, der nun nicht mehr, wie ursprünglich geplant, im 18., sondern im mittleren 17. Jahrhundert ansetzt. Erst durch den Blick auf den Westfälischen Frieden als Zäsur frühmoderner Asyldiskurse ließen sich die konzeptuellen Vor- und Komplementärgeschichten greifbar machen, die dann um 1800 in das moderne Asylverständnis einfließen. In den Archives départementales des Bouches-du-Rhône konnte darüber hinaus administratives Material aus der Fluchtbürokratie des frühen 19. Jahrhunderts gesichtet werden, das ein differenziertes Licht auf den Raum Marseille als einem zentralen Drehkreuz frühmoderner Fluchtbewegungen wirft und in bisherige Forschungen zu den Schnittstellen zwischen Staatsbürokratie und Exilgeschichte eingebracht werden kann. Der intensive Austausch mit dem Komparatisten Prof. Nuselovici, einem ausgewiesenen Experten im Bereich der Exilforschung und Exilliteratur, hat maßgeblich zur Entwicklung und Schärfung methodischer Zugänge und historischer Zäsurbildungen beigetragen. Ein Gespräch, das Geschichte und Gegenwart von Exilerfahrungen aufeinander bezieht, erschien in deutscher Übersetzung in dem Wissenschaftsmagazin Geschichte der Gegenwart ("Die territoriale Logik herausfordern", Mai 2021).
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Asyl als Schwelle. Historische Skizze zu einem politischen Begriff, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Januar 2023
Till Breyer
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Politisches Verbrechen und mythische Schuld. Zur Störung des Strafrechts in Fontanes Quitt, in: Andreas Blödorn/Johannes Ueberfeldt (Hg.): Der Störung auf der Spur. Zur Interferenz von Moral- und Rechtsdiskurs in der deutschsprachigen Verbrechensliteratur des 19. Jahrhunderts, Metzler Verlag, 2023
Till Breyer
