Biologische Prinzipien der Sensorfusion zur Orientierung im Raum
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Orientierung des Menschen im Raum basiert auf der Verarbeitung redundanter Informationen aus seinen Sinnesorganen (Sensorfusion). Während aktiver Drehungen in einer Umgebung ohne Landmarken nimmt man zum Beispiel an, dass die Geschwindigkeitssignale visueller, vestibulärer und propriozeptiver Sensoren fusioniert werden und dass das Ergebnis zur Bestimmung der Größe der Körperdrehung zeitlich integriert wird (Pfadintegration). Im aktuellen Fördemngszeitraum wurden in diesem Kontext folgende drei Fragen untersucht: 1. Wie gut und auf welche Weise kann der Mensch Sinneskonflikte wahrnehmen, etwa, wenn der visuelle Hintergrund nicht stationär ist, während er sich selbst bewegt (Wahrnehmungsschwelle), und wie verändert die Hintergrundbewegung seine Orientierung im Raum (Beeinflussbarkeit)? Unsere Untersuchungen zeigten bezüglich beider Kriterien überraschend große interindividuelle Unterschiede, die wir mit unterschiedlicher sensorischer Gewichtung interpretieren. Zwischen Individuen gab es einen reziproken Zusammenhang zwischen Wahrnehmungsschwelle und Beeinflussbarkeit. Auf der Ebene einzelner Probanden dagegen hing der Grad der Beeinflussung durch den bewegten Hintergrund nicht davon ab, ob Sinneskonflikte entdeckt wurden. Unser Erklärungsmodell sieht vor, dass die Wahrnehmung von visuellen Umgebungsbewegungen während man sich selbst bewegt, auf einem Vergleich zwischen dem visuellen und dem fusionierten, visuell-vestibulären Sinnessignal basiert und nicht, wie vielfach angenommen, auf einem Vergleich zwischen den visuellen und vestibulären Signalen. 2. Welche Hirnareale sind für die Pfadintegration verantwortlich? In Experimenten mit funktioneller Kernspintomographie (fMRT) wurden über Video-Brille kreisförmige „Fahrten" in einer virtuellen Landschaft präsentiert, bei der die Probanden entweder (a) fortlaufend schätzen müssten, wie weit sie im Kreis „gefahren" waren oder (b) wie oft sich die Fahrtgeschwindigkeit geändert hatte. (a) und (b) aktivierten ausgedehnte parieto-temporo-occipitale und präzentrale Areale mit rechtshemisphärischer Dominanz. Kontrast (a) - (b) zeigte ein parietohippocampales Netzwerk mit Präcuneus, inferiorem parietalen Cortex, posteriorem parietooccipitalen Cortex, retrosplenialem Cortex, der Hippocampus-Region, sowie Gebiete des superioren frontalen Gyrus und des Kleinhirns. Wir vermuten, dass die eigentliche Pfadintegration im Hippocampus stattfindet und dass die von dort kommenden Informationen im Precuneus und in parieto-occipitalen Regionen mit anderen Funktionen integriert werden. 3. In wie weit tragen Prozesse der Zeitverarbeitung zur Pfadintegration bei? In psychophysischen Experimenten kombinierten wir in einem Objektbewegungs-Paradigma Zeit- und Bewegungsinformation. Probanden müssten schätzen, wann sich eine visuell dargebotene Punktwolke um 180° gedreht hat oder sollten ein visuell vorgegebenes Zeitintervall verdoppeln. Die Reize wurden entweder assoziiert oder dissoziiert kombiniert. Assoziierte zeitlichräumliche Information verbesserte die Genauigkeit, verglichen mit reiner Zeitschätzung oder reiner Winkel Schätzung. Im fMRT wurden sowohl während Winkelschätzung als auch während Zeitschätzung vorwiegend parieto-temporo-occipitale und präzentrale Areale aktiviert, ähnlich wie in Abschnitt 2, jedoch mit geringeren Seitendifferenzen. Neben visuellen Verarbeitungsstrukturen waren auch Gebiete aktiviert, die häufig in Zusammenhang mit Zeitverarbeitung genarmt werden, wie Putamen, Kleinhirn, superiores und inferiores Parietalhirn, supplementärmotorische Area (SMA), prämotorischer Cortex und Insula. Überraschenderweise war die Aktivierung der meisten dieser Areale am größten bei der Winkelschätzung, wenn keine explizite Zeitinformation vorgegeben war und daher die Schätzungen ausschließlich auf Pfadintegration angewiesen waren. Wir deuten diese Ergebnisse so, dass bei der Pfadintegration intrinsische Mechanismen der Zeitverarbeitung aufgemfen werden, die mehr Verarbeitungskapazität im Gehirn benötigen als explizite Zeitintervall-Schätzungen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Human self turning perception with non-stationary environments: Is there a suppression of discordant sensory information? „Recent Advances in Neuro-Robotics Symposium: Sensorimotor Control", Freiburg, FRG, 2008
Jürgens R and Becker W
- Perceptions of self turning in space explained by Bayesian fusion of vestibular, optokinetic and podokinesthetic sensor signals. „Recent Advances in Neuro-Robotics Symposium: Sensorimotor Control", Freiburg, FRG, 2008
Becker W and Jürgens R