Digitale Erfassung sowie historische und sprachgeschichtliche Auswertung der autobiographischen Aufzeichnungen des Kölner Bürgers Hermann Weinsberg (1518-1597)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs (ca. 2600 Bll.) sind eine zentrale Quelle für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts und ein außergewöhnliches Beispiel für besonders in der jüngeren Forschung viel beachtete Quellengattungen wie Autobiographien, Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente. Nach der Erfassung, teilweisen historischen und sprachwissenschaftlichen Auswertung sowie Veröffentlichung der autobiographischtagebuchartigen ‚Gedenkbücher‘ (verfasst 1560-1597) im Internet unter www.weinsberg.uni-bonn.de in den Jahren 2002 bis 2006 wurde in der dritten Antragsphase (2006/2007) die digitalen Edition durch den in der zweiten Antragsphase bearbeiteten Text des ersten Gedenkbuch-Bandes (‚liber iuventutis') vervollständigt und der letzte noch unerschlossene Teils des Gesamtwerks transkribiert: Das ‚boich Weinsberg‘, eine fiktive Familiengeschichte, steht am Anfang der Arbeiten Weinsbergs (angelegt in den 1550er-Jahren) und bildet das ideelle Fundament des Gesamtkonzepts, indem es durch eine artifizielle Traditionsbildung den Zusammenhalt des Geschlechts nach dem Tod des Verfassers absichern sollte; es muss daher wie die ,Gedenkbücher' als Handlungsanleitung für seine Nachfolger im Amt des Familienvorstands gelesen werden. Im Vordergrund der Projekt-Arbeit stand - neben der vollständigen diplomatischen Transkription - die Vorbereitung des erfassten Textes auf die an das Ende des Projekts anschließenden Vorhaben durch eine umfassende Kodierung, die eine zeitnahe Umsetzung in eine die breite historisch interessierte Öffentlichkeit ansprechende Publikation als erster Band einer Neuausgabe der Aufzeichnungen Weinsberg erlaubt und dennoch den Anforderungen der weiteren sprachwissenschaftlichen Erschließung Rechnung trägt. Aus sprachhistorischer Sicht sind Weinsbergs Aufzeichnungen schon deshalb von ganz besonderem Wert, weil sie in großem Umfang Alltagswortschatz' enthalten, also eine wichtige Quelle für die lexikographische Erschließung jener Bereiche des Lexikons darstellen, die in den sonstigen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen (Verwaltungsschrifttum, Fachliteratur, fiktionale und religiöse Literatur) deutlich unterrepräsentiert sind. Hinzu kommt, dass diese Aufzeichnungen über vier Jahrzehnte hinweg den Schreibgebrauch einer Privatperson dokumentieren, über deren biographische Umstände man relativ gut unterrichtet ist - und dies in einer Phase der erheblichen Umstellung des schriftlichen Sprachgebrauchs fällt: Das 16. Jahrhundert bringt in Köln und im ripuarischen Rheinland (wie in ähnlicher Weise auch im gesamten niederrheinischen und niederdeutschen Raum) einen einschneidenden Varietätenwechsel in Druck- und dann auch Schreibsprache, von einem gerade im 15. Jahrhundert ziemlich konsistenten regionalen Schreibdialekt in eine überregionale (früh-) neuhochdeutsche Schriftsprache. Weinsberg ist der wichtigste Zeuge dieses Prozesses der Umstellung von der ripuarischen Schreibsprache zur neuhochdeutschen Schriftsprache im Bereich der privaten Schriftlichkeit. Nach Abschluss der einjährigen dritten Antragsphase und damit des gesamten Projektes liegt nun das vierbändige Kernstück des noch wesentlich umfangreicheren Weinsberg'schen Oeuvres vollständig erfasst und bearbeitet vor. Die Gedenkbücher sind bereits jetzt vollständig im Internet veröffentlicht. Dadurch wurde eine seit längerem geäußerte Forderung insbesondere der Selbstzeugnisforschung erfüllt, der durch die Auswahl einer Teiledition des 19. Jahrhunderts der Blick auf eine stärker autorbezogene Perspektive verstellt war, da damals vor allem die vermeintlich stadthistorisch relevanten Abschnitte herausgefiltert worden sind und Weinsbergs persönliche Ansichten übergangen wurden. Doch auch der Stadt- und Alltagsgeschichte war der steinbruchartige Charakter der bisherigen Publikation abträglich, da diese den Gesamtzusammenhang verschleierte und dadurch eine verfälschende Nutzung der enthaltenen Informationen provozierte: Wie man heute weiß, ist Hermann Weinsberg ein ganz außergewöhnlicher Fall, und seine Angaben sind - nicht zuletzt durch die Zielrichtung seines Schreibens - kaum zu verallgemeinern. Und eben darin lag das Hauptproblem der Auswahledition, die durch ihren selektiven Charakter den Eindruck einer bloßen Sammlung von Kuriosem und Banalem aus der Kölner Alltagswelt erweckt. Zudem stand der Tagebuchcharakter der Aufzeichnungen durch die strikte chronikale Struktur ganz unverhältnismäßig im Vordergrund und der erzählerische Zusammenhang wurde auseinander gerissen. Besonders deutlich wird diese insgesamt falsche Einschätzung der Quelle nach ihrer Entdeckung vor allem in der völligen Verkennung des ‚boich Weinsberg‘ als "Materialienbuch". Wie man jetzt weiß, handelt es sich dabei um einen ganz wichtigen Teil der Aufzeichnungen, doch die Editoren bedienten sich - um die Verwirrung noch zu steigern - nur des Namens. Der eigentliche Text dieses zuerst entstandenen Bandes wurde dagegen fast vollständig übergangen. Er komplettiert nun das Gesamtwerk als erster Teil einer Neu-Publikation. Dabei handelt es sich demnach um die unbedingt erforderliche Vervollständigung des Gesamtwerkes Herrmann Weinsbergs durch den bislang am wenigsten bekannten Teil - ein nicht nur für die Weinsberg- oder die o.g. Selbstzeugnisforschung, sondern für alle Benutzer ganz entscheidender Schritt. Denn eine sinnvolle Beschäftigung mit Hermann Weinsberg bzw. die Nutzung seiner Aufzeichnungen als Quelle kann nur unter Berücksichtigung und in Kenntnis des ganzen Rahmens seiner Arbeit gewährleistet werden: Bislang ist jedes Zitat aus dem Zusammenhang gerissen - aus einem ganz bestimmten, den meisten Nutzern nicht näher bekannten Kontext, der im ,boich Weinsberg' als erstem, noch vor den autobiographischen Teilen geschriebenen Band seine Wurzeln hat. Nachdem die Teiledition in Band 5 der Weinsberg-Auswahledition unter dem Einfluss der von Karl Lamprecht initiierten Kulturgeschichte erfolgte, kann nun - im Rahmen einer Renaissance der Kulturgeschichte im Zuge des ‚cultural turn‘ in den Geschichtswissenschaften - die Initiative der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts wieder aufgegriffen und vollendet werden. Im Rahmen der Bearbeitung wurden zudem alle Namen in Form eines dazu entwickelten Markierungssystems indiziert. Dieser Bearbeitungsschritt diente nicht nur der Vorbereitung eines für die Veröffentlichung zu erstellenden Registers, sondern auch der Integration insbesondere der erfassten Personen in eine in der zweiten Antragsphase aufgebauten Datenbank, die zusammen mit der Internetedition der Gedenkbücher den Kern eines digitalen Quellenkorpus bilden und dazu in das vom .Landschaftsverband Rheinland' aufgebaute Geschichtsportal eingebunden werden wird. In diesem Kontext werden sukzessive weitere Quellen die Weinsberg'sche Perspektive auf die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts ergänzen und weitreichende Erkenntnisse über das soziale .Profil' der früh neuzeitliche n Stadt Köln gewonnen werden können: So lassen sich gesellschaftliche Netzwerke unterschiedlicher Genese, Ausprägung und Intensität sowie Kommunikationsformen innerhalb der großstädtischen Gesellschaft und zwischen Stadt und Land sichtbar machen. Interessant ist dabei vor allem Weinsbergs individuelle, alltagsbezogene Wahrnehmung als Bürger und Ratsherr, die die Möglichkeiten der frühneuzeitlichen Stadtgeschichtsforschung in einem nicht nur für Köln von verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichem Schriftgut dominierten Zeitraum erheblich erweitert. Die Kennzeichnung der Namen und ihre Auswertung in eine Datenbank ist auch der Sprachwissenschaft ein wichtiges Anliegen. Es ergeben sich vielfältige Anknüpfungspunkte und Untersuchungsmöglichkeiten im Bereich der Namenkunde, z.B. die Analyse der erwartbaren Verfestigung der Familiennamen aufgrund der personalen Zuordnung aller Namen. Zudem können, da der Text erstmals vollständig sowie - im Gegensatz zu der Auswahledition, die erheblich in die Schreibung Weinsberg eingegriffen hatte - auch in einer ungekürzten und vor allem diplomatischen Fassung vorliegt, die eingeleiteten Verfahren zur Erforschung des Wortschatzes Weinsbergs (im Rahmen des Projektes .Historisches Rheinisches Wörterbuch') und seines Sprachgebrauchs in der für die Sprachwissenschaft höchst interessanten Umbruchszeit des 16. Jahrhunderts ausgeweitet, intensiviert und abgeschlossen werden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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"... ich wurde zu Coin burgermeister werden ...". Die Aufzeichnungen des kölner Ratsherren Hermann Weinsberg als Dokument einer Ratslaufbahn im 16. Jahrhundert, in: Groten 2005, S. 115-230.
Vullo, Alexandra
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Beobachtungen zu Weinsbergs "gemischter" Sprache, in: Groten 2005, S. 253-273.
Möller, Robert
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Bestandsaufnahme und Perspektiven der Weinsberg-Forschung, in: Groten 2005, S. 35-57.
Wulf, Tobias
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Hermann Weinsberg als Namenforscher?, in: Groten 2005, S. 275-292.
Hoffmann, Walter